begab ich mich am Tage nach meiner Ankunft zur damals noch nach Walter Flex benannten Schule zu deren Direktor (Herrn Rossa) und bat um Aufnahme. Der lächelte erstaunt, weil ihm dieses selbständige Vorgehen eines 14-Jährigen wohl noch nicht vorgekommen war, entsprach aber meinem Begehren. So begann für mich eine ereignisreiche Zeit, an die ich trotz der Kriegsereignisse noch gern zurückdenke.
Ich erlebe das Kriegsende in Naumburg
Nachdem die ersten Bomben auf die Stadt gefallen waren, suchten wir bei Fliegeralarm nicht mehr den Luftschutzkeller auf, sondern verzogen uns in den Bürgergarten andere bewaldete Gegenden, wo wir uns mehr Schutz erhofften. Als eines Tages Entwarnung ertönte, der anhaltende Ton aber nicht aufhören wollte, wussten wir einem Mal: jetzt liegen wir im Kampfgebiet! Für mich war klar, dass es jetzt meine Vaterlandspflicht sei, mich beim Volkssturm zu melden. Die Propaganda eines Goebbels hatte bei mir, einem jungen Idealisten, Früchte getragen. Meine Mutter war von meiner Mitteilung so überrascht, dass sie nichts dagegen unternehmen konnte. Waldschlößchen, wo ich einige Tage schießen gelernt hatte, denn es diente Volkssturm als Ausbildungslager, bekam ich einen Militärmantel, um nicht Angehöriger der von den Amis gefürchteten Werwolf-Organisation erschossen zu werden. Dazu gab es ein Gewehr und eine Panzerfaust, die ich mit ein paar Gurten an meinem Fahrrad befestigte. Zum Glück hatte uns ein einsichtiger Unteroffizier einen relativ ungefährlichen Posten anvertraut. Wir mußten am Eingang zum Bürgergarten alle Militärwagen anhalten und nach der “Parole” fragen. Damit ging die Nacht vorüber, nicht ohne einmal auf vermeintliche Feinde zu schießen, die uns unsere aufgestachelte Phantasie vorgegaukelt hatte. Am nächsten Tag vergruben wir Waffen und Uniformteile im Garten eines Grundstückes nahe dem “Posttöchterheim”. Dann begab ich mich im Schutze des Buchholzgrabens nach Hause und war gerettet.
Einmarsch der Amis
Mit dem Einmarsch der amerikanischen Truppen, die in Naumburg keinen Widerstand mehr vorfanden, tat sich für uns eine neue Welt auf. Überwältigend war für mich die ungeheure Menge an Kriegsgerät, angefangen von den Panzern bis zu über massenweise herumliegenden Telefonkabeln. Zum ersten Mal sah ich Fotos und Berichte über die Konzentrationslager und verstand überhaupt nicht, was das bedeuten soll Da die Schulen zunächst geschlossen blieben, versuchte ich unseren Lebensunterhalt zu verdienen, indem ich mutig in einem Schaufenster vom “Schlößchen” ein Schild aushängte: “Erteile Englischunterricht für Anfänger und Fortgeschrittene”. Das wirkte. Ich hatte den ganzen Tag über zu tun, wunderte mich aber, dass hauptsächlich jüngere Frauen Englisch lernen wollten. Viel zu verdienen war dabei nicht, denn ich verlangte für eine Einzelstunde 1,50 Reichsmark, für eine Gruppe von drei Schülern zusammen 3,- RM. Als mich eines Tages eine Schülerin bat, ihr einen Brief ihres geliebten GI zu übersetzen, kam ich in Bedrängnis, denn ich konnte die Schrift nicht entziffern und das amerikanische Englisch nicht verstehen. Schließlich stellte sich heraus, dass ihr Freund, von dem sie ein Kind erwartete, nicht mehr Deutschland zurückkehren würde.
Einmarsch der Sowjets
Völlig anders der Eindruck, den die sowjetischen Truppen machten, die die Amerikaner vertragsgemäß nach einigen Monaten ablösten. Die ersten Einheiten zogen Schneckentempo auf kleinen Panjewagen ein. Natürlich hatten sowohl die Russen als auch die Amis die schönsten Häuser für ihre Leute requiriert, so dass es in Naumburg Flüchtlinge aus der eigenen Stadt gab. Dann hieß es zu den Glücklichen, die noch eine eigene Wohnung hatten: Entweder Zimmer für die Herausgeworfenen freimachen oder das Haus wird auch beschlagnahmt. Die Naumburger Tageszeitung, die noch Tag des Wechsels die neuen Besatzer vollmundig begrüßt hatte, mußte am nächsten Tag ihren Betrieb einstellen. Mit Beginn der dunklen Jahreszeit wurde fast täglich gemunkelt, es sei in der Nacht wieder jemand erschossen worden. Ob Gerücht oder Tatsache, das wird für immer im Dunkeln bleiben. Jedenfalls trug ich abends immer eine Art Gummiknüppel im Ärmel meines Mantels bei mir, um mich gegebenenfalls wehren zu können. Dass ich mich damit mehr gefährdete als schützte, das machte ich mir nicht klar.
Gründung und Ende des Äschylus-Klubs
Als wir wieder zur Schule gehen konnten, begeisterten sich einige Klassenkameraden für die griechischen Dichter. Also wurde ein “Äschylus-Klub” gegründet, der eigentlich nur von unserer Begeisterung getragen wurde und sonst keinerlei Inhalt hatte. Natürlich mußte ein Stempel her. Dafür wählten wir einen mit einer runden Umrandung, nicht ahnend, dass so ein Dienstsiegel aussieht, das nur vom Staat benutzt werden darf. Das ging auch einige Zeit gut, bis wir im Rathaus eine große Tanzparty abhalten wollten. Veranstalter: Der Äschylus-Klub. Das mußte natürlich bei der sowjetischen Stadtverwaltung sauer aufstoßen. Zwei Stunden vor Beginn des Festes wurde alles verboten. Ich als einer der Initiatoren raste auf meinem Fahrrad von einer Stelle zur anderen und auch zu unserem Direktor, Herrn Dönecke. Der übernahm die Garantie dafür, dass der Klub “harmlos” sei, und so konnte die Party doch noch steigen. Beinahe aber hätte das Unternehmen doch noch ein schlimmes Ende genommen. Als ich meine Tanzpartnerin endlich abholen und zum Rathaussaal führen konnte, wurde uns - es war schon dunkel - in der Weimarer Straße von einem benachbarten Grundstück ein großer Mauerstein nachgeworfen, der glücklicherweise sein Ziel verfehlte.
Der Chinese und die Kartoffeln
Ich hatte von einem Chinesen gehört, der einen großen Teppich kaufen wollte. Also boten wir ihm unseren Teppich an, auch wenn dieser nur 2 x 3m maß. Wir hatten Glück und wurden handelseinig. Der Preis betrug - und deswegen erzähle ich hier Geschichte - 1.000 RM und l Zentner Kartoffeln, wobei letztere für uns weit wichtiger waren als das wertlose Geld.
Warum unser Lehrer einen roten Kopf bekam
Geschichtsunterricht bekamen wir von einem überzeugten Kommunisten, Herrn Dr. Kloß. Anfangs entspannen sich zwischen ihm und der Klasse sehr hitzige Diskussionen, die bald sachlich, bald emotional geführt wurden. Am Ende solcher Stunden verließ Dr. Kloß den Klassenraum erzürnt und mit hochrotem Kopf. Wir versuchten, ihn in die Enge zu treiben, aber obgleich wir in der Überzahl waren, hatte er natürlich die besseren Karten. Nach einigen Stunden gaben wir ermattet auf und lernten fortan Geschichte aus kommunistischem Gesichtswinkel. Als ich später nach dem Westen ging, machte ich bei ihm einen Abschiedsbesuch. Er bedauerte meinen Entschluss, war aber äußerst fair und legte mir keine Steine in den Weg. Ich habe ihm das hoch angerechnet.
Über die Grüne Grenze
Mittlerweile hatte ich in Jena zu studieren begonnen, wollte mich aber nach dem Westen absetzen. Einem Gerücht zufolge, auf das man mangels echter Informationen angewiesen war, sollte man an der Grenze keine Schwierigkeiten haben, wenn man eine ordnungsgemäße polizeiliche Abmeldung nach einer Stadt im Westen vorweisen könnte. In Jena jedoch verweigerten sie mir eine solche Abmeldung, nicht aber in Naumburg. So dachte ich mir folgenden Trick aus: Ich melde mich in Jena ab nach Naumburg, in Naumburg melde ich mich dann an und gleich wieder ab, und zwar nach dem Westen. Das war freilich mit viel Aufwand verbunden, denn An- und Abmeldung betrafen jedesmal vier getrennt liegende Ämter. Trotz knapper Zeit schaffte ich die Prozedur in zwei Tagen. Geholfen hat mir das an der Grenze allerdings nichts. Auf der letzten Bahnstation vor der Grenze, wo ich spät abends eintraf und als Einziger ausstieg, empfingen mich gleich 4 Volkspolizisten. Die konnte ich aber beruhigen, als ich mich nach dem Weg zu einem in der Nähe gelegenen FDJ-Lager erkundigte und sie ein FDJ-Abzeichen sahen, das ich vorsichtshalber angesteckt hatte. 200 m hinter dem Bahnhof schlug ich mich ins Gebüsch, brauchte aber für Grenzüberschreitung in unbekanntem Gelände die ganze Nacht.
Mein Fahrrad bekommt einen “Lebenslauf”
Mein Fahrrad hatte ich damals in Naumburg zurückgelassen. Als ich es anlässlich eines Besuches nachholen wollte, empfahl man mir, dafür einen notariellen Eigentumsnachweis ausstellen zu lassen, um Schwierigkeiten an der Grenze zu vermeiden. Der Notar Ludwig Herzfeld, Vater eines Schulkameraden, schrieb dann einen zweiseitigen regelrechten “Lebenslauf”, beginnend mit dem Kauf des Rades im Jahre 1938. Die Überführung in den Westen machte dann keine Schwierigkeiten. Das Rad, nunmehr ein Oldtimer 65 Jahren, leistet mir bis jetzt immer noch treue Dienste, und auch die Urkunde ist noch vorhanden.