Ein Zimmer war allerdings an Frau Dolch vergeben. Es herrschte ja Wohnungsnot. Wir konnten also bei Oma nicht übernachten. In der über ihr liegenden Wohnung lebte ihre Schwägerin, Witwe ihres Bruders Wolf, Tante Mariechen (Flemming) mit ihren Töchtern Bärbel und Ursel. Dort war aber auch nicht genügend Platz für den Besuch. Also ging es jeden Abend zu Omas Schwester, Tante Hilde (Bauer, geb. Flemming) und Onkel Werner (Bauer) in den Weinbergsweg 4. In deren Wohnung gab es mehr Platz. Tante Hilde hatte einen schwarz-weißen Hund, der Bobby hieß. Er war ihr ein und alles, denn sie hatten keine Kinder. Onkel Werner hatte eine Sauerkraut- und Gurkeneinlegerei mit Gleisanschluss! An diesen typischen Geruch erinnere ich mich genau. Auf dem Hof standen riesige Fässer. Für uns Kinder war das alles sehr einladend, um alles zu erkunden.
Etwas Besonderes war auch immer ein Besuch bei Omas Bruder, Onkel Paul (Flemming) und Tante Grete (Flemming, geb. Rulff), die einen Kolonialwaren-Laden am Lindenring 39 hatten. Direkt neben Hildebrandts, wo es Eis gab. Der Lebensmittelladen wurde ganz im alten Stil betrieben. Alles wurde abgewogen. Es gab große Schubläden mit Mehl, Zucker, Reis und Nudeln. Natürlich gab es auch Bonbons und wir bekamen immer eine Tüte voll.
In die wunderschöne Umgebung von Naumburg machten wir Ausfahrten und Begriffe von Örtlichkeiten haben sich mir bleibend eingeprägt: Hallescher Anger, Bürgergarten, Bad Kösen, Himmelreich, die Katze, Rudelsburg und Schönburg.
Bei Oma zuhause wurde es nicht langweilig. Sie hatte einen großen Garten mit einer Laube. Für uns Kinder bot er herrliche Möglichkeiten zum Spielen. Auf dem großen Hof roch es recht intensiv. Im Wirtschaftsgebäude der ehemaligen Spedition Flemming war eine “Teefabrik” eingezogen. Dort wurden Kräutertees getrocknet und verpackt. Oma schimpfte allerdings immer über den Staub. Aber auch in der Wohnung gab es viel zu sehen. Die alten Möbel allein waren schon etwas Besonderes; und der Inhalt erst! Mit Oma wurde “gekramt” in Schränken un Schubläden. Es gab viel anzusehen: alte Handarbeiten, Schmuck, Ansichtskarten und Spielzeug von unserem Vater und sogar von Oma! Sie hatte eine Puppe, groß und wunderschön mit Zöpfen! Ich mußte vorsichtig mit ihr umgehen. Der Kopf ist aus Porzellan. (Heute ist die Puppe in meinem Besitz.) Am eindrucksvollsten ist mir das Weihnachtsfest in Erinnerung geblieben. Dann wurde Omas Puppenhaus aufgestellt. In meinen Augen war es riesig mit mehreren Zimmern und komplett eingerichtet: es gab sogar Geschirr aus Zinn mit Messer, Gabeln und Löffeln. Bücher für Kinder gab es bei Oma auch; Bücher meines Vaters und Bücher, die aus der Jugendzeit meiner Oma stammten. Es wurde viel vorgelesen und später habe ich die meisten Bücher und Heftsammlungen selbst gelesen.
Ich freue mich, dass viele dieser Gegenstände aus Kindheit und Jugend meines Vaters und meiner Großmutter erhalten geblieben sind; den Umzug meiner Oma im Jahr 1961 zu uns nach Minden überstanden haben und heute meinen Kindern, der nächsten Generation, Einblicke in frühere Kinder- und Jugendzeit ermöglicht:
Einen Bogen über drei Generationen spannen!
Anneliese Raschkowski, Wolfsburg (um 1953):
Besuch bei Oma in Naumburg.
Meine Großmutter Margarete Herold, geb. Flemming, Mutter meines Vaters, Ernst Herold, lebte in Naumburg. Wir, Mutti, Vati, mein Bruder Ernst und ich lebten in Minden/Westfalen. In den 50-er Jahren besuchten wir Oma in jedem Jahr. Oma bewohnte im Haus, Luxemburg-Str. 25, eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit Küche und Toilette.