waren die wenigen freien Tage, die wir miteinander verbracht haben. Ausflüge zu Saale und Unstrut, nach Bad Kösen oder in den Harz zum Kyffhäuser sind unvergessen.
Meine Mutter, auch die meisten der Paßows, waren überzeugte Christen in einer engagierten Gemeinde in St. Othmar. Erst mit etwa vier Jahren wurde ich getauft und so erinnere mich an dieses Ereignis. Ich trug ein hellblaues Kleid, an dessen seidigen Stoff ich mich heute noch erinnere. Auch an die Weihnachtsmetten und Andachten und die Flirts von Empore zu Empore mit den Jungens auf der anderen Kirchenseite. Oder die eisig kalten Gottesdienste am Ostersonntag unter freiem Himmel auf dem Friedhof, wenn Pastor Böhm im schwarzen schlichten Talar beim Aufgehen der Sonne seine Hände erhob: “Hölle, wo ist Dein Stachel, Tod, wo ist dein Sieg...” In diesem Moment habe ich verstanden, was mit der Auferstehung gemeint war. Später dann, als Teenager mit meinen Zweifeln am Sinn des Glaubens, hat mich der Pastor bei der Stange gehalten. Pastor Böhm ist mir unvergesslich mit seiner ruhigen, bestimmten, sehr aufgeschlossenen Art.
Wir wurden älter, die Probleme nahmen zu. Politik spielte immer eine Rolle. Ich war begeisterte junge Pionierin, was meine Mutter mit Skepsis beobachtete. Spöttisch hob sie den Zipfel meines blauen Halstuches hoch: “Bei uns war das schwarz, heute ist es blau, dämmert‘s dir?” Es dämmerte mir nicht.
Bei einem Ausflug mit seinen Freunden fand mein Bruder einen Packen Flugblätter. In einer Nacht und Nebelaktion vom CIA abgeworfen. Er war vierzehn Jahre alt. Die Volkspolizei holte ihn abends zum Verhör. Er blieb die ganze Nacht in Gewahrsam. Beim morgendlichen Fahnenappell musste ich vortreten. Ich wurde vor allen Schülern und Lehrern gerügt, weil mein Bruder eine schändliche Dummheit begangen hatte. Erst einen Tag danach kam er wieder frei. Meine Mutter schrieb einen Beschwerdebrief an Wilhelm Pieck und erhielt eine kurze abschlägige Antwort.
Von jetzt an drangsalierte man sie, verweigerte man mir und meinem Bruder die Oberschule. Wir standen unter Beobachtung. Und jede pubertäre Dummheit, jeder Streich wurde doppelt gewogen. Es kam zur Anklage gegen meinen Bruder und gegen meine Mutter. Beide reisten nach Brandenburg ab. Es vergingen Wochen, ohne dass ich etwas von ihnen hörte. Ich ging wie immer zur Schule, bis eines Tages meine leibliche Tante aus Weißenfels abends in der Buchholzstraße auftauchte. Nur das Nötigste durfte ich mitnehmen. Ich nahm Abschied von meinen geliebten Paßows, von Tante Dotty. Es war mir nicht bewusst, dass es für eine lange Zeit sein würde. Früh am Morgen brachte mich meine Tante zum Bahnhof und wir fuhren nach Berlin, stiegen in die S-Bahn und kamen über die Friedrichstraße nach Westberlin. Das war im Frühjahr 1957. Einige Stunden später stand ich meiner Mutter und meinem Bruder im Flüchtlingslager Berlin Marienfelde gegenüber. Meine Kindheit war beendet.