Die Karte hatte folgenden Text:
Pfingstsonntagsjunge Peter,
das ist fürwahr nicht jeder!
Es hat der Schicksalsengel
dem kleinen lieben Bengel
des Glückes blaue Blume
zu stetem Eigentume
schon in das Wiegenbett gelegt,
damit er stark und unentwegt
zum tücht’gen Mann einst werde,
der fest auf dieser Erde
mit seinen beiden Beinen steht
und in des Führers Bahnen geht.
Er mög zur Freud Euch werden,
zur schönsten hier auf Erden!
Das 1000-jährige Reich währte nur 12 Jahre, ich war 7 Jahre alt, als "des Führers Bahnen" nirgendwo mehr begehbar waren...
Das war also der Anfang am Pfingstsonntag 1938. Es wird nicht viele Menschen geben, die auf die Stunde genau sagen können: jetzt ist meine Kindheit vorüber, beendet. Ich kann dies sehr wohl.
Es war am 9. März 1953 zwischen 9 und 10 Uhr. Ich war 14 Jahre alt und Schüler der 9. Klasse der Naumburger Oberschule. Gegen 9 Uhr wurde ich aus dem Unterricht geholt und zum Direktor zitiert. Dort wurde mir (und einer ganzen Reihe anderer Schülerinnen und Schülern) erklärt, ich hätte die Trauerfeier aus Anlass des Todes von Stalin auf "provokative Weise" gestört, ich sei hiermit von der Schule verwiesen.
Später bekamen wir es schriftlich: Ausschluss von allen Oberschulen der DDR. Die "Freiheit" druckte am 19. März eine ganze Schmähschrift-Seite gegen meine Familie ab unter der Überschrift: " In der Oberschule Naumburg weht ein frischer Wind" und "Ein Beispiel dafür, wie Feinde des Fortschritts entlarvt werden", darin heißt es: "Solche Elemente wie Peter Orlamünde werden an Plätze gestellt, wo sie das notwendige Bewusstsein am ehesten erhalten".
Das war das Ende meiner Kindheit und ich habe trotz meiner 14 Jahre sofort begriffen, dass von nun an mein Leben in eine ganz andere Richtung gehen würde.
Der Grund für diese Ereignisse war die Tatsache, dass ein großer Teil der Schülerschaft neben der FDJ auch in der "Jungen Gemeinde", also der evangelischen Jugend angehörte und dies war den Regierenden ein Dorn im Auge. Später erfuhr ich, dass solche Aktionen im ganzen Land durchgeführt wurden, mit unabsehbaren Folgen für die Betroffenen...
Die Stationen: Hallesche Straße Herrenstraße Lepsiusstraße
Die 1. Wohnung meiner Eltern war in der Halleschen Straße 41, daran habe ich keine Erinnerung mehr. Der Hauptteil meines kindlichen Lebens spielte sich in der Herrenstraße 2, der Lorbeerbaum-Apotheke, ab. Wir wohnten dort von 1940 bis 1950.
Die Wohnung war groß, wir wohnten viele Jahre zu dritt dort: Mutter, Schwester Sabine und ich, der Vater war 1939 eingezogen worden und kam erst 1946 aus amerikanischer Gefangenschaft wieder. Allein die Wohnung zu beschreiben würde einige Seiten füllen. Ich will es bei zwei Beispielen belassen: Zur Herrenstraße hin waren 2 Zimmer, im 17. Jahrhundert hatte man zur Straßenseite oft ein oder zwei "Prunkzimmer". Eines dieser Zimmer hatte einen Erker, man konnte von hier aus die Straße in alle Richtungen überblicken. Der Clou der Wohnung war am anderen Ende ein Dachgarten mit einer Laube. Wir haben hier in luftiger Höhe über den alten Höfen sonnengebadet, Tomaten und Tabakspflanzen gezogen und ich hatte über einige Jahre Kaninchen in ihrem Stall zu versorgen.
Das Haus hatte einen tiefen Keller, der hauptsächlich von der Apotheke genutzt wurde. Drei Böden gab es über uns, dort standen große Trommeln mit Kräutern und Tees - überhaupt roch es natürlich im ganzen Haus nach Apotheke. Neben der Apotheke gab es noch ein zweites Geschäft im Haus: ein Zigarrenladen mit einem Besitzer, der mich an Theo Lingen erinnerte, Mittelscheitel, sehr gepflegt, modisch gekleidet, immer mit Krawatte und blitzblank geputzten Schuhen.
1950 zogen wir "ins Grüne", in die Lepsiusstraße 4. Wir Kinder mussten fleißig helfen und kleinere Dinge wie Bücher oder Eingemachtes mit dem Handwagen oder dem Kinderwagen (1947 war Sybille geboren worden) in die neue Wohnung bringen. Jetzt hatten wir ein Stück Garten und viel Grün um uns herum, es gab Linden und Kastanienbäume und man schloss neue Freundschaften mit Nachbarskindern. Die Straßenbahn war nun nicht mehr zu hören, dafür dann nachts, wenn es ganz still war, vom Bahnhof her die Pfiffe der Eisenbahn und das Schnauben der Dampflokomotiven.
Schulzeit
Die Schultüte war grün, an den Inhalt kann ich mich nicht mehr erinnern - die Mutter wird 1944 ihre Not gehabt haben, das Papp-Ungetüm zu füllen. Die Georgenschule war eine reine Jungenschule und es war nur das 1. und 2. Schuljahr, das ich dort verbrachte, dann wurde die ganze Klasse in der Diesterwegschule weiter unterrichtet, die eigentlich Salztorschule hieß und Mehrschicht-Unterricht hatte. Das war ein alter Bau, den schon mein Vater von innen gesehen hatte. Für viele hundert Kinder gab (und gibt) es nur einen kleinen Schulhof. Im Sommer konnte man vor lauter Staub kaum den Schulhof überblicken und im Winter gab es eine ganz unangenehme Sache: die nicht beheizbare kleine Toilettenanlage fror bei tiefen Temperaturen ein und die erledigten Bedürfnisse der Schüler liefen dann aus dem Häuschen heraus und folgten dem natürlichen Gefälle des Schulhofs...
In jedem Klassenzimmer war ein großer eiserner Ofen, der mit Kohle beheizt wurde. Vor diesem Ofen stand eine Holzkiste mit dem Kohlevorrat. Jeden Vormittag öffnete sich die Klassenzimmertür, Hausmeister Vogel (ein recht gestrenger Mann) kippte eine gefüllte Kiepe über die Schulter in die Holzkiste und verließ, in eine gewaltige Staubwolke gehüllt, wieder den Raum.
Wir mussten unsere ersten Lesebücher abgeben. Ich erinnere mich noch an ein Bild in diesem Buch: ein Junge fuhr Roller, an dem Roller war vorn ein Wimpel mit einem großen Hakenkreuz darauf. Als wir die Bücher wiederbekamen, war dieses Zeichen eingeschwärzt - so, wie die Briefmarken zunächst weitergalten und geschwärzt wurden und genau so, wie später Briefe aus dem Westen mit missliebigen Marken im Osten geschwärzt wurden...
Ein großes Ereignis war die Auflösung der Diesterwegschule 1951: Unsere 8. Klasse wurde der Marienschule zugeteilt, einer reinen Mädchenschule. Da fühlten wir uns wie die kleinen Könige und der vorher nicht so sehr beliebte Posten der Pausenaufsicht mit Armbinde war plötzlich sehr begehrt. Das Schuljahr schloss mit einer Abschlussprüfung mündlich und schriftlich in verschiedenen Fächern. Das war auch mitentscheidend für den Übergang auf die Oberschule, heute Lepsius-Gymnasium.
Im Herbst 1952 war ich dann Schüler der 9. Klasse der Oberschule Naumburg - 6 Jungen und 30 Mädchen. Die meisten Mitschüler kannte ich nicht, viele waren aus dem Landkreis, kamen aus Bad Kösen oder auch aus Freyburg.
Eine Sache möchte ich noch erzählen: meine Stärken waren Musik (natürlich!) und Deutsch. Mit den Naturwissenschaften, insbesondere Mathematik, hatte ich es nicht so besonders. Es war immer ein knappes "genügend" und im Mathe-Unterricht machte ich mich immer recht klein und unauffällig. Die erste Mathe-Stunde der Oberschule nahte. Ich hatte mir einen "Neuanfang" vorgenommen, denn vielleicht lag es ja auch am Lehrer, der bislang meine eventuell versteckten mathematischen Begabungen nicht zu fördern wusste. Mein Gesicht sprach sicher Bände, als sich die Tür öffnete und derselbe Lehrer der 7. und 8. Klasse den Raum betrat: er war mit mir versetzt worden! Nach einem kurzen Blick in die Runde meinte er vielsagend: "Na, wir kennen uns ja..."
Dass meine Zeit in der 9. Klasse nur bis zum März ging, habe ich im Vorwort schon erläutert. Insgesamt bin ich, wenn ich ehrlich bin, nicht gern zur Schule gegangen. Ich hatte immer viele andere Interessen und wenn mir 1952 jemand gesagt hätte, dass ich einmal noch 30 Jahre lang zur Schule gehen würde - diesmal als Lehrer und diesmal gern - dann hätte ich es ihm damals nicht abgenommen!
Ein "Denkmal" möchte ich noch anfügen. Wir hatten von der 5. bis zur 8. Klasse einen Klassenlehrer, den wir sehr verehrten und der ein Pädagoge von hohen Graden war: Dr. Werner Herrtwich, der übrigens noch seinen 100. Geburtstag feiern konnte!
Kriegsende – Nachkriegszeit
Auch Naumburg wurde mehrere Male bombardiert, wir hatten immer unsere Taschen mit wichtigen Unterlagen griffbereit stehen, die wir mit in den Keller nahmen. Unten, am Fuß der Kellertreppe, war zum Nachbarhaus hin ein Durchbruch in der mittelalterlichen Kellermauer geschaffen und mit einer dünnen Ziegelmauer wieder verschlossen worden. Davor lag eine große Spitzhacke: wenn unser Haus einen Treffer bekommen hätte und die Ausgänge verschüttet worden wären, hätten wir so den "Notverschluss" öffnen und in den Nachbarkeller flüchten können. Nur gut, dass wir das nicht ausprobieren mussten...!
Im April 1945, nach einem Angriff auf die Innenstadt Naumburgs kamen bald darauf amerikanische Soldaten, der Krieg war zu Ende. Der Bombenangriff hatte eine große Anzahl von Opfern gekostet, wir waren mit dem Schrecken davongekommen. Das Heereszeugamt lag teilweise (übrigens noch viele Jahre lang) in Trümmern, der Rest war für die Bevölkerung freigegeben worden. Da sah man Leute mit Butterwürfeln, Zigarrenkisten oder auch technischem Gerät nach Hause laufen. Wir haben uns später hölzerne "Rennwagen" gebaut, als Räder dienten große Kugellager aus dem Heereszeugamt. Ich selbst durfte leider nicht an der "Räumung" teilnehmen, Mutter hatte es verboten.
Nach ein paar Monaten hieß es, die Amerikaner ziehen ab, die Russen kommen. Die Propaganda hatte viel bewirkt, den Russen ging ein schlimmer Ruf voraus und so waren wir und viele andere auch an diesem Tag noch einmal im Luftschutzkeller. Als es totenstill blieb, sind wir wie die Mäuschen aus dem Loch nach oben und von der Herrenstraße aus zum nahen Markt gegangen. Dort wurden wir Zeuge von der "Besetzung": kleine struppige Pferde zogen Wagen, die vollgepackt waren, oben saßen Soldaten mit ihren seltsam geformten Maschinenpistolen, teilweise waren auch Frauen dabei. Wir Jungen waren ein bisschen enttäuscht, nachdem wir die Panzer und riesigen LKW der Amerikaner gesehen hatten. Uns erschien das alles recht ärmlich.
Es gab bald neues Geld, die roten Fahnen blieben, sie hatten in der Mitte oft einen Kreis, der andersfarbig war: hier war im Schnellverfahren das Hakenkreuz entfernt worden. Lebensmittelkarten hatte es vorher schon gegeben, über die "Rationen" hinaus gab es kaum etwas, es sei denn auf dem Schwarzmarkt. Viele Leute fuhren aufs Land, um bei Bauern etwas gegen Essbares einzutauschen. Die Mutter war einfallsreich und versuchte mit Phantasie unsere hungrigen Mäuler zu stopfen. Eine "Leberwurst" hatte nie Leber gesehen, sie bestand aus Grieß und Majoran...
Das Leben spielte sich in der Küche ab, ein weiteres Zimmer zu beheizen verbot sich. Unvergesslich ist mir eine Szene im kalten Winter 1947: die Schule fiel aus über Tage und Wochen. Es war ein kalter Vormittag, wir Kinder lagen noch in den Betten, als es klingelte. Der Onkel aus Freyburg war mit dem Fahrrad gekommen, blau gefroren. Er brachte ein paar Würste und eine große Aluminiumkanne voll Wurstsuppe, die zu einem einzigen Eisklumpen erstarrt war. Das gab ein Festmahl!
Eine eigene Geschichte hat unser Schreibtisch. Er wurde im August 1940 bei der Firma Kühn in Naumburg (am Kaiser-Friedrich-Platz, heute H.-v.-Stephan-Platz) gekauft als Bestandteil eines "Renaissance"- Herrenzimmers. In der Herrenstraße stand er unter dem Fenster zur Engelgasse hin. Nach dem großen Bombenangriff (die Fenster mussten wegen der Druckwellen offen bleiben ) lag eine dicke Staubschicht auf ihm, außerdem ein scharfkantiger Bombensplitter. Der Vater hat drei Jahrzehnte an ihm gearbeitet, Schreibmappe und Tintenfass, Briefwaage und Familienfotos waren ordentlich darauf angeordnet. Dann schrieb später die Mutter zwei Jahrzehnte lang an ihm Briefe an die Kinder in Ost und West, in die Lausitz, nach Niedersachsen und nach Amerika. Und nun steht er, nachdem er alle Umzüge ohne Blessuren überstanden hat, bei unserer Tochter Uta in Coburg. Das übergroße Format wird noch immer geschätzt, beherrschend ist heute natürlich die Computeranlage mit Bildschirm!
Was in der Welt geschah, erfuhr man aus Radio oder Zeitung, es wurden so lange Siegesmeldungen verbreitet, bis es dann schließlich nichts mehr zu siegen gab, und die Amerikaner in Naumburg einrückten.
Wir hatten aber schon vorher einen Vorgeschmack vom nahen Ende bekommen, nicht nur in der Schule, wo die Klasse fast täglich um einen Mitschüler aus Ostgebieten größer wurde, auch zuhause änderte sich einiges. Wir bewohnten ja eine große 6-Zimmerwohnung, der Vater war eingezogen worden und ich lebte mit Mutter und Schwester wohnraummäßig "üppig". Das sollte sich bald ändern. Im Oktober 1944 bekamen wir eine holländische Familie einquartiert: Vater, Mutter, Tochter und Sohn Hubert, der in meinem Alter war. Diese Familie hatte ein besonderes Schicksal. Nachdem die Amerikaner schon im Oktober 1944 Aachen und das südliche Holland besetzt hatten, musste die Familie fliehen, weil sie Parteigänger der Nazis waren und Repressalien befürchteten. Ihre Hotelpension in Valkenburg wurde enteignet, und als sie im Frühjahr 1945 Angst hatten, den anrückenden russischen Truppen in die Hände zu fallen, entschlossen sie sich doch zur Rückkehr nach Holland. Dort wurde das Ehepaar zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt und bekamen erst Anfang 1953 die völlig leergeräumte Pension zurück.
Dann wurde eine junge Frau mit Baby bei uns einquartiert, anschließend ein älteres Ehepaar aus dem Sudetenland und zuletzt ein Uhrmachermeister aus Liegnitz mit Frau und vier Töchtern. Das war für unsere Mutter nicht immer ganz einfach: Vieles spielte sich in der Küche ab, der Herd war in Dauerbetrieb und das Bad mit Toilette war auch nicht gerade ein Schönheitsfleck in der Wohnung und ständig umlagert.
Kurz vor Kriegsende, an einem kalten Wintertag, klingelte es an der Wohnungstür und draußen standen Onkel und Tante mit Koffer und zwei großen Bündeln: den Federbetten. Der Onkel, der einzige richtig überzeugte Parteigenosse in der Familie, hatte als "alter Kämpfer" das goldene Parteiabzeichen und war von der Partei mit einem Häuschen in der Horst-Wessel-Siedlung oberhalb der Lehmgrube belohnt worden. 1940 wurde er nach Lodz ("Litzmannstadt") versetzt und dort in eine komplett eingerichtete Villa einquartiert (...wer da wohl vorher gewohnt hat?) Kurz vor der Besetzung von Lodz durch russische Truppen verließ er mit der Tante Polen und stand nun mit Koffer und Federbetten vor unserer Tür. Die Tante stammte aus Freyburg, dort hielten sie sich für kurze Zeit auf und sind dann in Onkels alte Heimat ins Badische weitergezogen. Im Häuschen in der Horst-Wessel-Siedlung wohnten dann ganz andere Mieter, auch der Name der Siedlung änderte sich in "Lenin-Höhe". (Seit der Wende heißt das Wohngebiet Richard-Lepsius-Siedlung.)
Es gab keine Pimpfe mehr, sondern junge Pioniere, keine Hitlerjugend, sondern die Freie Deutsche Jugend, und auf dem Dach der "Reichskrone" verschwand das große Hakenkreuz. Es wurde später durch die drei Buchstaben SED ersetzt.
Über Politik zu sprechen, gar Scherze damit oder darüber zu machen, gefiel dem Regime nach wie vor nicht. Ich erinnere mich gut daran, dass es immer den Blick nach rechts und links gab (besonders in Gastwirtschaften), bevor man über politische Themen sprach: es könnte ja jemand zuhören... Und es gab zwischen 1945 und 1950 auch schlimme Urteile, oft 10 oder 25 Jahre Haft. Ein Beispiel aus dem Bekanntenkreis: Ein Bäcker, spät aus russischer Kriegsgefangenschaft gekommen, arbeitete in einer Konsum-Bäckerei. Ein Mehlsieb war geplatzt und es wurden versehentlich Drahtsplitter mit verbacken. Das Brot wurde an die russische Armee geliefert, das Wort ("Sabotage" war schnell gesagt und die pauschalen 10 Jahre Gefängnis wurden verhängt. Erst im Juni 1953 kam er wieder frei!
Oft wurde beim Mittagessen darüber gesprochen, wer wieder "weggemacht" war, d.h. mit Kleingepäck über die grüne Grenze oder in Richtung West-Berlin Naumburg den Rücken gekehrt hatte. Viele Menschen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis verloren wir aus den Augen, viele gingen, weil ihnen der Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu groß war.
In der Herrenstraße hatte sich einiges verändert, "Thams & Garfs" und "Schade & Füllgrabe" gab es nicht mehr, alle anderen Geschäfte, meist mit dürftigen Auslagen, waren noch geöffnet. Durchgehalten in Kriegs- und Nachkriegszeit hatte Arturo Gamba, der "Eismann" Naumburgs. Er war Italiener, wohl der einzige in der Stadt, und die Eisdiele in den schönen Gewölben war Magnet für Groß und Klein. "Trillhase", das Feinkostgeschäft an der Ecke zum Lindenring, musste dem ersten HO-Laden Naumburgs weichen. Hier gab es Lebensmittel, die ohne Marken zu kaufen waren, anfangs zu horrenden Preisen, aber es gab sie wenigstens und es gab auch immer Leute, die sich an den hohen Preisen nicht störten...
Das Trümmerfeld hinter der Sparkasse und der Sielingschen Druckerei wurde von uns Kindern gründlich nach Brauchbarem abgesucht, vor allem nach brennbaren Dingen. Die Beschaffung von Heizmaterial war neben der Sorge um Essbares das Problem der Nachkriegszeit. Kohlen auf Bezugsschein waren knapp, und jeder Naumburger kennt noch die Kohlenmänner, die säckeweise Briketts oder Braunkohle in die Keller trugen, wenn das "schwarze Gold" nicht einfach vor die Tür gekippt und von den Belieferten selbst in den Keller geschafft werden musste.
Weit verbreitet war das Kohlenklauen an der Bahn. Auch wir Kinder sind zum Bahnbetriebswerk gezogen, wo die Dampfloks standen, sind auf die Tender geklettert, haben zwischen den Schienen nach Kohlen gesucht, immer gewärtig, von der Bahnpolizei verjagt zu werden. Eine beliebte Stelle war das Haltesignal vor der Rossbacher Brücke. Wenn hier die schweren Kohlezüge halten mussten, kletterten Männer auf die Loren und warfen in Windeseile Briketts nach unten, die wir dann in mitgebrachten Beuteln und Netzen nach Hause trugen. Da gab es auch mal blaue Flecke, wenn man von einem Kohlestück getroffen wurde!
Von den vielen tausend russischen Soldaten in der Stadt bekamen wir nicht viel zu sehen, wenn, dann wurden sie im Trupp durch die Stadt geführt, oder man sah sie auf Kohle-LKW vom Ostbahnhof her kommend den Flemminger Weg zu den Kasernen fahren. Von dort oben gab es den "Stadtfunk": Lautsprecher dröhnten und verbreiteten Marschmusik und russische Chormusik über die Stadt. Ganze Viertel, z.B. um das Oberlandesgericht herum, wurden mit Bretterzäunen abgeriegelt, hier wohnten die Offiziere mit ihren Familien, die sich frei in der Stadt bewegen durften. Ich habe es im "Hackerbräu" ein paar Mal erlebt, dass ein russischer Offizier das Lokal betrat, Geld auf den Tresen legte, " sto gramm" (100 g) Wodka verlangte, diesen austrank und schnell wieder verschwand.
Ferien
Da hat sich wohl bis heute nicht viel geändert! Welcher Schüler freut sich nicht auf die Ferien? Und im Vergleich zur Jetztzeit, wo Familien in alle Winkel der Welt ausfliegen (können), Badeurlaub an entfernten Stränden verbringen oder zum Wintersport fahren: wie bescheiden sind da unsere Erlebnisse gewesen, wie eng der Radius unserer Fahrten.
Zumeist blieben wir zuhause, machten mit der Familie Ausflüge, lange Wanderungen zum Bismarckturm, nach Bad Kösen oder Freyburg. Beliebte Ziele waren auch der Felsenkeller, die Fischhäuser oder der Bürgergarten. Für uns Kinder gab es dann, wenn eingekehrt wurde, eine Fassbrause, nach dem Fussmarsch vom Kösener Bahnhof in die Gaststätte "Himmelreich" auch mal zwei. Höhepunkte waren die Schiffsfahrten auf der Saale zur Rudelsburg.
Ein paar Mal habe ich die Sommerferien in Freyburg verbracht. Der Onkel hatte in der Oberstraße einen Sattler- und Tapeziererbetrieb mit Laden und großer Werkstatt, dazu noch eine kleine Landwirtschaft und einen romantischen "Berg" mit einer verfallenen Hütte. Das war für einen kleinen Stadtjungen ein wahres Paradies. Die Tante hat selbst Brot gebacken, geschlachtet wurde auch und bekanntlich schmeckt es ja woanders immer besser als zuhause. Freunde waren auch schnell gefunden, es gab und gibt in Freyburg viele Winkel zu entdecken, wenn ich da allein an die Gegend um Schloss Neuenburg und den Haineberg denke.
Besonders schöne Erinnerungen habe ich an die Sommerferien bei den Großeltern in Burg bei Magdeburg, wobei mir schon die Bahnfahrt dorthin wie eine Weltreise erschien. Das große barocke Haus in der Brüderstraße bot auch alles, was einen Jungen begeistern konnte: vom besteigbaren Maulbeerbaum bis hin zu einem riesigen Garten, in dem ich auch eine Eisenbahn aufbauen durfte. Eine Besonderheit war das städtische Schwimmbad, das sich die Kommune schon vor dem Krieg gebaut hatte: potente Steuerzahler wie die Tack- Schuhfabriken oder die Knäckebrot-Werke werden das ermöglicht haben.
Und in Burg sprach man einen ganz anderen Dialekt als in Naumburg, schon das imponierte mir. 1944/45 habe ich die Luftangriffe auf Magdeburg miterlebt. Obwohl 25 Kilometer entfernt, bewegte sich das große Hoftor in den Angeln. Die Bahnfahrt durch die zerstörten Städte Magdeburg und Halle waren sehr bedrückend.
Im Winter 1945/46 musste man in Magdeburg über eine Notbrücke die Elbe überqueren, den Rest der Strecke bis nach Burg fuhr ein offener LKW mit einem Kessel, in dem Holzstücke verbrannt wurden. Ich weiß noch, dass ich als Bübchen von den zahlreichen Mitfahrern bis zu diesem Kessel weitergereicht wurde, weil es dort am wärmsten war...
Winterzeit — Sommerzeit
Was gab es doch "früher" für Sommer! Und erst die Winter! Wir zogen mit dem Schlitten los, gab und gibt es doch um Naumburg herum herrliche Rodelbahnen. In besonders lebhafter Erinnerung ist mir dabei der Kirschberg. Wenn man von ganz oben startete, die Straße schön glatt war und man unter lautem "Bahne frei"- Rufen ordentlich in Schwung kam, konnte man es die Luisenstraße hinunter fast bis zur Vogelwiese schaffen - was bei dem heutigen Autoverkehr undenkbar wäre.
Als wir in die Lepsiusstraße gezogen waren, hatten wir die Rodelbahn direkt vorm Haus. Da wurden dann auch mal mehrere Schlitten zusammengebunden, was nicht selten zum Umkippen der ganzen Fuhre führte und die eine oder andere Schürfwunde verursachte. Hin und wieder bin ich am späten Abend mit Wassereimern unterwegs gewesen, um die Bahn schneller zu machen. Da gab es aber auch "Spielverderber", die Kohlenasche ausstreuten, um die Bahn stumpfer zu machen. Unvergessen ist mir, wie meine Mutter eines Tages mit auf den Schlitten stieg, mit einem Besenstiel lenkte, und die schöne glatte Bahn damit aufkratzte, was mir viel Kritik der Mitrodler einbrachte und mir selbst ganz schön peinlich war.
Nach dem langen kalten Winter 1946/47 kam übergangslos der Frühling mit einem Temperatursprung von wenigstens 20 Grad. Der viele Schnee taute schnell, aus der Buchholzstraße schoss ein gewaltiger brauner Strom, der dann zwischen den Salztorhäuschen hindurch die Freyburger Straße hinab den Moritzwiesen entgegenfloss zur Saale hin. Die Schule fiel aus, ein Lehrer ließ sich mit einem Pferdefuhrwerk zur Salztorschule in der Schulstraße bringen.
Die Sommerzeit war natürlich auch die Badezeit. Sobald es die Temperaturen zuließen, liefen wir barfuß. Von der Herrenstraße zu Kayser-Ede nach Rossbach hatte ich eine lange Wegstrecke. Man muss sich vorstellen, dass Naumburg durch die vielen Flüchtlinge zwischen 1945 und 1950 gut 40.000 Einwohner hatte. Wer im Sommer schwimmen wollte, ging an die Saale, an den Halleschen Anger oder an den Gänsegries nach Grochlitz. Die einzige Flussbadeanstalt, etwa 200 m unterhalb der Rossbacher Brücke war ein Unikum: zwei Holzkästen mit unterschiedlichem Tiefgang für Nichtschwimmer gab es, das Schwimmerbecken lag frei in der Saale, es war mit leeren Tonnen eingefasst, auf denen Bretter lagen, so dass man um das ganze Becken herumgehen konnte. Die ganze Anlage war an Ketten befestigt, die um riesige Erlen geschlungen waren. Es müssen Tausende gewesen sein, die bei schönem Wetter nach Rossbach strömten!
Meine Schwester Sabine, drei Jahre jünger als ich, hatte ihre Ferien bei unserer Großmutter in Burg bei Magdeburg verbracht und kam von dort mit einer Trophäe zurück: sie hatte das Freischwimmerzeugnis und gab mir gegenüber häufig damit an, was mich schon sehr wurmte. Der Sommer 1950 war nicht übermäßig warm, trotzdem fasste ich den Entschluss, bei Adolf Kayser "an die Angel" zu gehen, also richtig schwimmen zu lernen. Ich wurde dann zur Prüfung bestellt, an einem kalten Morgen, die Saale hatte gerade mal 14 Grad, weil die Saaletalsperre Wasser abgegeben hatte. Nach zwanzig Minuten habe ich es mit Mühe geschafft, steif gefroren aus dem Wasser zu klettern. Auch das ist eine Geschichte von gestern: Als wir mit der Familie zur Saale am Grochlitzer Gries zogen, wurden wir von den Eltern ermahnt, immer aufzupassen, nicht in die scharfkantigen Muschelschalen zu treten. Die Saale war noch ein sauberer Fluss, es gab noch Muscheln, Fische und man konnte von der Rossbacher Brücke immer den Grund des Flusses sehen.
Die Straßenbahn
Unsere Naumburger Straßenbahn gehört zu den ältesten Straßenbahnen in Deutschland. Zunächst als Pferdebahn unterwegs, schnaufte sie dann mit Dampf und seit 1902 elektrifiziert durch die Stadt. Da es mehrere Ausweichstellen gab, konnte die Straßenbahn, die als einspurige Ringbahn unterwegs war, den Ring in beide Richtungen abfahren.
Ich habe in meinen Kindertagen die Bahn allerdings nur in eine Richtung fahren sehen: vom Marktplatz aus durch die Herrenstraße in Richtung Hauptbahnhof. Die Wagen, von 1 bis 10 durchnummeriert, waren die gleichen, die schon mein Vater als Kind kannte. Zuerst war der Arbeitsplatz des Wagenführers offen, d.h. vor der Witterung schützte ihn nur der verglaste Vorbau, der dann später mit Holz verkleidet wurde. Als Junge musste ich immer wieder das Schild "Nicht auf den Boden spucken" lesen und konnte eine solche Mahnung gar nicht verstehen.
Von unserer Wohnung im 2. Stock der Lorbeerbaum-Apotheke aus konnte ich die Fahrt der Straßenbahn durch die ganze Herrenstraße beobachten, als musikalischer Knabe habe ich am Motorengeräusch und dem Quietschen in der leichten Kurve vor dem Haus jeden einzelnen Wagen erkennen können ohne ihn zu sehen! Eine kurze Zeit fuhr die Bahn mit kleinen offenen Gepäckanhängern. Wir Kinder machten uns einen Spaß daraus, ein Stück "gratis" auf diesen Loren mitzufahren, was nicht ganz ungefährlich war und vom Personal der Straßenbahn nicht gern gesehen wurde.
Es gab nach dem Krieg im Kino "Reichskrone", das auch das Naumburger Theater war, hin und wieder vor Filmvorführungen anstelle eines Vorfilms eine "Bühnenschau" mit 50 Pf. Aufpreis. Eine dieser Bühnenschauen hatte die Naumburger Straßenbahn zum Thema, die "wilde, Zicke" oder "Ille", wie sie auch genannt wurde. Ich habe im Friedheimschen Kinderchor mitgesungen, und der Chor wurde als singende Statisterie auf der Bühne gebraucht, wo dann eine nachgebaute Bahn stand, um die sich die Handlung rankte. Ich musste mich auf einen reservierten Platz im ersten Rang setzen und auf das Stichwort von der Bühne her, ob denn wohl jemand ein Gedicht zur Straßenbahn parat hätte, ganz "zufällig" antworten "Ich weeß eens" und legte dann los:
"Kennen sie die wilde Zicke?
Nee? Noch nick? Da ham se Gliche.
Da gehn se nur mal in de Stadt,
wo Gleise man geleget hat.
Doch bleim se bloß nich darauf stehn,
sonst isses bald um sie geschehn.
Es naht dann nämlich mit viel Ticke
unsre heeßgeliebte wilde Zicke..."
Wie es weiterging weiß ich nicht mehr. Als Belohnung durfte ich ein- oder zweimal kostenlos den Hauptfilm sehen. Das war schon etwas!
Die Straßenbahn gehörte zum Naumburger Leben. Wenn wir am Salztor standen und die Bahn die Pfortastraße (heute Weimarer Straße) heranschwanken sahen (das Gleismaterial war abgenutzt, noch schlimmer war es auf der folgenden Strecke am Wenzelsring), dann gehörte auch das zum Erscheinungsbild unserer Straßenbahn. Hin und wieder kamen Freunde aus ländlichen Gegenden zu Besuch, da stand dann fast immer eine Rundfahrt mit der Straßenbahn auf dem Programm...
Musik – Musik
Der Vater war Kirchenmusiker in Naumburg, Kantor an der St. Othmars- Kirche. Ich hatte einiges von seiner Musikalität geerbt und es war schon in meinen Kindertagen vorgezeichnet, dass die Musik in meinem Leben einmal eine gewichtige Rolle spielen würde. Frühe Erinnerungen sehen mich als Drei- oder Vierjährigen unter dem Flügel sitzen, wenn der Vater übte. Ich wollte von ihm immer wieder die Revolutions-Etude von Chopin hören, wohl deshalb, weil es "so schön laut" war. Der Vater hatte zahlreich Klavier- und Violin-Schüler, regelmäßig probte in unserer Wohnung ein Streichquartett, und dass wir alle in der Othmars-Kantorei mitsangen, war ganz selbstverständlich. Und natürlich hatte ich einen festen Platz neben dem Vater in der Kirche, um ihn beim Orgelspiel zu beobachten. Oft bin ich allein in die Kirche gegangen, um die Orgel auszuprobieren. Da wir die Kantoren in Naumburg alle kannten und ich wusste, dass in St. Wenzel eine viel größere und schönere Orgel stand, bekam ich vom damaligen Wenzels-Kantor Gottfried Fauck den Kirchenschlüssel immer dann, wann ich wollte. Ich habe mir Choralbücher und leichte Orgelstücke vorgenommen, und eines Tages, ich werde wohl 12 Jahre alt gewesen sein, schickte mich mein Vater los, um in St. Othmar eine Trauung auf der Orgel zu begleiten. Natürlich hat er sich erkundigt, ob auch alles geklappt hat: Es hatte! Ich bekam eine Mark als "Honorar", das war damals der Gegenwert von immerhin vier Kinokarten für Kinder im Schwanen-Kino. Den ersten Klavierunterricht hatte es beim Vater gegeben, der seine Schüler mit viel Geduld unterrichtete. Diese Geduld hatte er allerdings bei mir, seinem Sohn, nicht. Er meinte, ich müsste alles wenigstens doppelt so schnell lernen, was aber nicht der Fall war. Und so kam, was kommen musste: die Mutter meinte, der heulende Knabe am Klavier muss zu einem anderen Lehrer gehen. Ein Fräulein Linde in der Jakobstraße sorgte dann wesentlich weniger aufregend für meine Fortbildung. Ich musste in jede Klavierstunde ein in Zeitungspapier eingewickeltes Brikettstück mitbringen...
Als 8-jähriger begann ich, im Friedheimschen Kinderchor mitzusingen. Es wurde mit etwa 15 Gleichaltrigen in der Luisenstraße geprobt und hat viel Spaß gemacht.
Es gab auch einen recht guten Posaunenchor, den Herr Musbach leitete. Ich bekam ein Flügelhorn als Leihinstrument und musste fleißig üben. Wir haben Gottesdienste in Kirchen Naumburgs und der näheren Umgebung begleitet. In guter Erinnerung sind mir noch Posaunenchortreffen in Bernburg und Wittenberg, bei denen mehrere tausend Bläser zusammenkamen.
In der Kantorei des Vaters hatte ich mit meinem hellen Sopran einen festen Platz. In einem Kirchenkonzert musste ich den Sopran-Solopart in einer Mozart-Messe singen, die LDZ (Liberal-Demokratische Zeitung) bescheinigte mir, wie ein Chorknabe der Thomaner gesungen zu haben! Dies hat meinen Vater wohl bewogen, mich bei den Thomanern in Leipzig anzumelden. Mit klopfendem Herzen und sicher zitternder Stimme habe ich Thomas-Kantor Günther Ramin vorgesungen. Ramin fand meine Stimme wohl ganz gut, meinte aber, meine Anmeldung käme um mindestens 2 Jahre zu spät, da ich mit 14 oder 15 in den Stimmbruch käme und tiefe Stimmen hätte er genügend. Wer weiß, was geworden wäre, wenn...?
Eine Episode fällt mir ein. Wir waren 44 Jungen in der Klasse, der Musikunterricht bei Fräulein Heinemann bestand vorwiegend aus Singen. Sie begann und beendete jede Musikstunde mit dem Kanon "Himmel und Erde müssen vergehen...". Dies nun fand ich sehr langweilig und begann damit, den Kanon genau einen Ton tiefer mitzusingen, was dem Gesamtklang freilich nicht sehr zuträglich war. Irgendwann kam sie mir auf die Schliche und ich bekam im Zeugnis in Musik eine 4, was damals "mangelhaft" war! Wie ich schon erwähnte, musste ich meinen Vater an der Orgel vertreten und eines Tages heiratete Fräulein Heinemann in unserer Kirche. An der Orgel saß ihr mangelhafter Musikschüler! Das wird 1950 gewesen sein, ich war also, 12 Jahre alt.
Das Fahrrad
Ein Fahrrad war in der Nachkriegszeit ein Schatz, den es zu hüten und zu pflegen galt. Am Anfang gab es zwei Räder in der Familie. Die Mutter erzählte, dass ihr Rad kurz nach der Hochzeit gestohlen worden war, als sie im Cafe Herfurt in der Marienstraße nach einem Eis anstand, das war 1937. Fortan gab es nur noch ein Fahrrad. Bereifung, also Mantel und Schlauch, waren Mangelware und ich erinnere mich noch an die Vollgummi-Notlösung, was bei den Pflasterstraßen in Naumburg nicht gerade für "sanftes" Fahren sorgte, gab es doch nur in der Salzstraße, der Marienstraße und Müntzerstraße glatten Teerbelag.
Das Fahrrad war unentbehrlich, ich war (und bin es bis zum heutigen Tag) ein begeisterter Radler. Mit 15 Jahren bin ich durch ganz Deutschland, mit 16 Jahren durch Holland und Belgien gefahren, aber das war schon Jenseits der Kindheit.
Ich musste (durfte!) oft Besorgungen mit dem Rad machen, zum Beispiel bei einem Bäcker in Flemmingen Brot holen. Zwischen den Kasernen lagen viele Glasscherben, die russischen Soldaten "entsorgten" ihre Flaschen der Einfachheit halber aus den Fenstern direkt auf die vorbeiführende Straße. Da musste das Rad dann geschoben werden, einen Plattfuß wegen eines zerschnittenen Reifens durfte man sich nicht leisten. Auf die Abfahrt in die Stadt, den Flemminger Weg hinunter, habe ich mich immer besonders gefreut.
Ein Erlebnis ist mir in trauriger Erinnerung geblieben. Für mich war das Radfahren immer eine besondere Sache, eine Art Belohnung, und hin und wieder fuhr ich auch ohne Erlaubnis. An einem schönen Sommerabend planten die Eltern einen Kinobesuch. Sie gingen von der Lepsiusstraße in Richtung "Reichskrone" und ich fasste den Entschluss, dies auszunutzen, holte nach gebührender Wartezeit das Fahrrad aus dem Keller, fuhr in die Salzstraße hinein in Richtung Marktplatz und genau hier kamen mir die Eltern entgegen, die keine Kinokarten mehr bekommen hatten. Ausweichen konnte ich nicht mehr und wusste natürlich, dass meine unerlaubte Tour Folgen haben würde, und die waren erheblich: einen Monat Fahrverbot und was noch schlirnmer war, ich durfte das kurz darauf stattfindende Konzert des Leipziger Thomanerchors in der Wenzelskirche nicht besuchen!
Meine Liebe zum Zweirad hat das letztlich nicht geschmälert, später (viel später) bin ich auf das Motorrad umgesattelt und damit sicher mehr als 100.000 Kilometer gefahren. Ein Fahrrad stand aber immer in der Garage.
Nachwort
Weshalb schreibe ich so etwas auf? Es sind zum Einen persönliche Dinge, an die ich mich erinnere, es ist aber auch ein Blick auf eine Zeit, die einen anderen Rhythmus hatte. Und dann natürlich die liebe alte Stadt Naumburg, die ich später in fast jedem Jahr (bis heute) besucht habe, in der meine Mutter bis zu ihrem Tod 1998 lebte.
Ich habe noch den Wenzeltürmer Schunke gekannt, das Braustübl in der Wenzelsstraße, habe miterlebt, als 1950 die neuen Glocken den Othmars- Kirchturm bezogen: ich durfte sie von der Glockengießerei Schilling in Apolda aus begleiten.
Mit dem Domküster zusammen bin ich auf einen Domturm gestiegen und konnte zusehen, wie die Glocken geläutet wurden: der Glöckner stand über der Glocke und musste mit dem Fuß auf ein mitschwingendes Brett treten, das an der Glocke befestigt war. Das Ganze war nicht ungefährlich, denn er musste von Glocke zu Glocke eilen, um sie in Schwung zu halten.
Als Schüler habe ich Mai-Aufmärsche und Kartoffelkäfer-Sammelaktionen erlebt, Kinderverschickung im "Waldschloss" genossen (es gab gutes Essen) und auch in der "Herberge zur Heimat" am Neuengüter im Kriegs-Kochgeschirr köstlichen Reisbrei mit Rosinen abgeholt.
Es sind Erinnerungen, wie sie der eine oder andere Naumburger sicher auch noch hat...