Kontakte zu den Lyceums-Schülerinnen zu knüpfen. Unterricht erteilte Frau Hölzer-Hallmann, eine resolute Witwe in den 60er Jahren, die zwar ein wenig gehbehindert war, aber leichtfüßig die wichtigen Grundschritte vorzutanzen verstand. Mindestens ebenso wichtig war ihr der sog. “Anstandsunterricht”, in dem die - für das noch immer konservative Naumburg - wichtigen Etikette-Fragen geklärt wurden.
Unmittelbar nach dem Kriege aber bekam Frau Hölzer-Hallmann Konkurrenz durch das deutlich jüngere und modernere Ehepaar Erich und Mathilde Döring. Sie hatten bald Naumburgs Tanzparkett erobert und sollten es über viele Jahre erfolgreich beherrschen.
Schwerpunkt waren die Schülertanzstunden für Anfänger und Fortgeschrittene, die - streng getrennt - für Domgymnasiasten und Realschüler erteilt wurden. Es hieß, dass sich “die Schönsten im Lande” vor allem zum “Dom” hingezogen fühlten.
An zwei Abenden in der Woche gab es Unterricht, an dessen Ende auch die zahlreichen Zaungäste “mitschwoofen” durften. Zwei “Tanzkränzchen” und der “Abschlussball” bildeten die Höhepunkte des halbjährigen Kursus. Zu ihnen “engagierte” der Jüngling die Dame seines Herzens, sofern sie noch nicht vergeben war und er sich aus dem “Restbestand” bedienen musste.
Gelegentlich aber hatte das Herz zu schweigen, weil der Magen knurrte. Es waren die Jahre, in denen oft bitter gehungert wurde. Da fiel dann auch schon mal der Blick auf die “Dorfschönheiten”, die zu Kränzchen und Ball die reichhaltigsten Torten zu kredenzen pflegten. Freundeskreise planten strategisch: je zwei luden nahrhafte Bauerntöchter ein, die beiden anderen durften nach “Herzenslust” engagieren, beim nächsten Mal umgekehrt - so war jeder Achtertisch an Leib und Seele gut versorgt. Unbeobachtet konnte man sogar dem befreundeten Zaungast ein Stück ländlicher “Buttercremetorte” (damals der kulinarische Höhepunkt!) vor der Tür des Restaurants “Bürgergarten” zustecken.
Kritisch war die Kleiderfrage. Vor allem für die jungen Herren, die in die Anzüge und Schuhe ihrer Altvorderen - noch nicht oder nicht mehr - hineinpassten. Zu kaufen gab es höchstens mal ein Paar Holzpantinen, die ganz Pfiffige durch schwarze Schuhcreme zu verfeinern und zu kaschieren suchten; vergeblich: die Schmiere stank so entsetzlich, dass sie bei den jungen Damen jeden Appeal einbüßten. Diese wiederum hatten es leichter, weil sie sich Kleider ihrer Mütter umarbeiten oder auch schon mal aus Gardinenstoff eine Ballrobe nähen konnten. Auf manchem Dachboden fanden sich allerliebste Kostüme aus dem Fundus der Großeltern, die für den Maskenball geeignet waren. Zu solcher “Aufmachung” passten auch einige der Tänze, die Dörings ihren Schülern beibrachten. Das waren nämlich nicht nur die Standardtänze, wie Walzer, Foxtrott und Tango, sondern auch noch Rheinländer, Kreuzpolka, Marsch und Quadrille. Den Höhepunkt der Modernität aber bildete der Swing, der jedoch erst zum Ende der Unterrichtsstunde oder des Balles in aller Ausgelassenheit getanzt werden durfte. Unter den Zuschauern befanden sich nicht nur ehemalige und künftige Tanzschüler, sondern bei Bällen und Kränzchen auch die Mütter, die von einer Estrade herab, auch “Drachenfels” genannt, liebevoll-argwöhnisch ihre Kinder beäugten. Zum Maskenball erschien auch schon mal einer der jüngeren Lehrer, z. B. der allseits beliebte Musiklehrer Dr. Walter Haacke, in phantasievollen Kostümen, angehimmelt von den jungen Damen, deren Gunstverlust mancher der Schüler befürchtet haben mag. Bei einem dieser Schülerbälle hat Haacke dann auf dem Stimmungshöhepunkt selbst zum Schlagbass gegriffen und “mitgejazzt”, was den ihm übelgesonnenen Kommunisten Anlass zu einer publizistischen Hetzkampagne mit der Forderung auf Entlassung aus dem Schuldienst bot.
An dem einem Ball oder Kränzchen folgenden Tag fand der sogenannte “Katerbummel” statt, obwohl es mangels Alkohols gar keine echten “Kater” gab. Solche Ausflüge führten nach Großjena oder zum Rektorberg, wo fröhlich weiter gefeiert wurde. Hier kam es denn auch schon mal vor, dass die sonst züchtigen Tanzspiele leicht orgiastische Züge annahmen: in der Tanzstunde bewegten sich die Damen zu Marschmusik in einem inneren Kreis in die eine Richtung, die Herren in einem äußeren Kreis in die andere Richtung und fanden bei plötzlichem Aussetzen der Musik ihren Partner für den nächsten Tanz. Beim Katerbummel durfte man die in der Marschpause vorgefundene Dame nicht nur betanzen, sondern - wenn man Glück hatte - auch küssen. Das galt als verrucht.
Ein wenig überschattet waren die Tanzstunden dadurch, dass man sich - und vor allem die Tanzstundendamen - auf dem spätabendlichen Heimweg vor angetrunkenen russischen Soldaten rechtzeitig in Sicherheit bringen musste. Da gab es manche gefährlichen Situationen.
Obgleich die Lebensumstände sehr beengt waren: die Naumburger Tanzstunde in der Nachkriegszeit hatte für die Beteiligten vorwiegend fröhliche Seiten. Sie schweißten so zusammen, dass man sich noch heute nach fast 50 Jahren ein um das andere Jahr zum Wiedersehen verabredet: vor der “Wende” in Glashütten im Taunus, seitdem im geliebten Naumburg.