Aber es hatte eine große Auswirkung.
Trotz des schönen Wetters und der knappen Kohlen wurde im Wohnzimmer der Ofen geheizt. Es wurde allerhand Papier verbrannt. Meine Mutter rief mich herein, ich war damals zwölf Jahre alt. Den BDM-Ausweis sollte ich bringen. Er wurde zu meinem Entsetzen verbrannt. Auch die BDM-Kleidung sollte ich holen. Von der BDM-Uniform wurden die Knöpfe abgetrennt und verbrannt. Auch mein Turnhemd mit dem Nazi-Emblem auf der Brust musste herhalten. Das Emblem wurde vorsichtig abgetrennt und auch verbrannt.
Vom Abtrennen blieben winzig kleine Löcher zurück. Die erinnerten mich später an die fröhlichen Nachmittage und Sportfeste mit den vielen Volksliedern.
Sogar Schlips und Knoten, die ich erst kurze Zeit hatte und auf die ich so stolz war, kamen ins Feuer. Da fing ich an zu heulen und konnte die Welt nicht mehr verstehen. Erklärt wurde mir wenig: Die Amerikaner würden kommen, heute oder morgen, da müsse das alles weg sein, sagte meine Mutter und zerriss dabei wieder ein Buch, damit es besser brennt.
Auch das Hitlerbild über meinem Bett wurde entrahmt und verbrannt. Und ich war doch so stolz darauf! Tante Marthel hatte es mir zum Geburtstag geschenkt. Sehr begeistert waren meine Eltern allerdings darüber nicht gewesen.
Es wurde schon beträchtlich warm im Zimmer. Mutter kramte immer noch im Bücherschrank. Auch mein Bruder Klaus musste einiges her geben., z.B. die Fotos von den Ritterkreuzträgern, für die ich auch schwärmte.
Im Bücherschrank hatte sich einiges verändert. In der vordersten Reihe stand ein Buch, das ich vorher nie gesehen hatte: Heinrich Heine "Buch der Lieder".
Auf dem Klavier lag jetzt ein Notenbuch. Auf dem stand mit großen Buchstaben: Mendelsohn-Bartholdy. Auch diese Noten hatte ich vorher noch nie bei uns gesehen.
Die Amerikaner kamen ohne Bomben und Schüsse. Es ging alles ganz friedlich zu. Ich wurde ohne Sorge Einkaufen geschickt mit den Lebensmittelkarten. Im Laden grüßte ich Herrn Eulau mit "Heil Hitler". Da sagte ein alter Mann zu mir: "Na, Fräuleinchen, das darfst du aber jetzt nicht mehr sagen!" Diese Äußerung machte mich recht betroffen. War das doch von Kindheit an der öffentliche Gruß. "Guten Tag" sagte man doch nur zu Hause.
Die Amerikaner erlebten wir in den ersten Tagen als freundliche, Kaugummi schenkende Männer, an denen wir unsere spärlichen Englischkenntnisse aus der Schule ausprobieren konnten.
Doch dann kam plötzlich eine weniger freundliche, barsche Aufforderung, unsere Wohnung zu räumen für die Unterbringung der Soldaten. Nur ganz wenige Stunden hatten wir Zeit. Aber wohin? Die gute Tante Mariechen nahm uns auf. Immerhin waren wir fünf Personen: der Vater, gelähmt durch einen Schlaganfall, die Mutter, Klaus und ich und unser kleinster Bruder, fünf Monate alt, im Kinderwagen. Es wurden viele Windeln eingepackt, etwas Kleidung und alles, was Essbares im Hause war.
Wie lange wir ausquartiert waren, weiß ich nicht mehr. Es kam mir sehr lange vor. Aber sicher waren es nur zwei bis drei Wochen. Dann zogen die Amerikaner weiter. Sie hatten die Matratzen unserer Betten zur Polsterung ihrer Lastwagen mitgenommen. Klaus kam dazu, als sie unser Grammophon raus trugen. Es war weinrot und mit weinrotem Filz und Samt ausgekleidet. Er wollte es zurückholen, da haben sie ihn mit dem Gewehr bedroht.
Ziemlich verwüstet fanden wir die Wohnung vor. Unser gutes Wohnzimmerbuffet hatten sie zum Rasieren benutzt. Es war voller Wasserpfützen und Seifenschaum. Man sieht die Flecken noch heute. Aber sonst sind wir glimpflich davon gekommen im Vergleich zu andern Familien.
Mir blieb die Frage, wer ist nun gut und wer böse. Ich lag in meinem Bett und konnte nicht einschlafen. Immer schaute ich auf die Stelle an der Wand, wo das Bild gehangen hatte. Der Rand war noch zu sehen, innen hell und außen dunkel. Die Bomben werfenden Amerikaner, die auch in unserer kleinen Stadt einige Häuser zerstört hatten, waren jetzt die großen Befreier, die Guten. Das war schwer zu verstehen.