Will man das Vollrath’sche Haus betreten, muss man erst eine schwere Tür aus Eisenblech in einer hohen Mauer öffnen und danach einen gepflasterten Vorhof ohne Baum und Pflanze überqueren. Wie in einer Kaserne! Und tatsächlich, wenn man den Hausflur bis zum Ende durchschreitet und hinten wieder hinaustritt, steht man wirklich auf einem riesigen Kasernenhof. An seinen Rändern sind kleinere Geschütze und andere Militärfahrzeuge aufgereiht. Gelegentlich spielen wir auf diesem Kriegsgerät sogar, ohne dass wir vertrieben werden. Hin und wieder exerzieren dort auch einige Soldaten. Aber meistens sind wir auf dem riesigen Areal allein.
Herr Vollrath ist Lehrer gewesen, erfahre ich. Vermutlich kann er seiner Gesinnung wegen an keiner Schule mehr unterrichten; denn er ist kein Mitglied der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei). Die Pension bietet ihm und seiner Frau Lebensunterhalt, Beschäftigung und kommt seinen pädagogischen Neigungen sehr entgegen. Großen Respekt haben wir etwa zwanzig Schüler vor ihm, aber gerade noch keine Angst. Er residiert immer am Kopfende eines der drei langen Tische in zwei großen Räumen auf der einen Seite des Erdgeschosses. Von hier aus achtet er darauf, dass das Tischzeremoniell eingehalten wird. Von hier aus beaufsichtigt er gründlich unsere Schulaufgaben und ist für alle unsere diesbezüglichen Fragen offen.
Eines Tages ist ihm aufgefallen, dass wir Kleinen uns beim Essen gegenseitig stören, weil wir uns andauernd mit den Ellbogen ins Gehege kommen. Kurzerhand greift er sich aus dem hohen Bücherregal mehrere leichtere Folianten und klemmt sie uns unter die Achseln. “Die bleiben jetzt eine Weile dort, bis Ihr begriffen habt, wie man anständig isst. Wehe, die Bücher fallen dabei herunter! Beim Essen hält jeder feine Mann seine Arme dicht am Körper. Verstanden?” Und wie wir verstehen! Eine Lektion fürs ganze Leben.
Erdkunde (1944/5)
Im letzten halben Jahr vor Kriegsende geschieht es immer häufiger und dann regelmäßig, dass Herr Vollrath nach dem Abendessen das ganze Haus vor der großen Europakarte versammelt und den Wehrmachtsbericht aus der Zeitung vorliest. Dann suchen wir die genannten Orte - auch hier ist er Pädagoge - und stecken kleine Fähnchen in die Karte. Sie markieren die neue Westfront in Nordfrankreich und die Ostfront in Russland. Beide sind weit weg von Naumburg. Allmählich begreifen wir aber, dass die Fähnchen immer näher an die Grenzen des Deutschen Reiches heranrücken. Eines Tages liegt Ostpreußen jenseits der russischen Frontlinie. Nun wird es immer enger, im Westen und im Osten. Mich beschleicht ein tiefes Grauen: Was ist, wenn sie, vor allem die Russen, immer näher kommen? Werden sie dann auch hier kämpfen und schießen? Geht dann auch in Naumburg alles kaputt? Was machen sie mit uns? Werden sie uns am Leben lassen, oder - ?
Wir holen tief Luft und versuchen die Beklemmung durch Geschnatter von uns abzuschütteln, wenn wir nach dem Frontbericht die Treppe zu unseren Zimmern hinauf stürmen. - Aber nachts haben wir meist Ruhe. Die Bombergeschwader berühren unsere Gegend selten. Noch! Nur manchmal wecken uns die Sirenen. Wenn dem Voralarm der Hauptalarm folgt, müssen wir allerdings in den Keller.
Kohlenklau (Winter 1945/6, mit 11 Jahren)
Als großen, schwarzen Schattenmann diagonal auf einem gelben Plakat, so kennen wir ihn noch aus dem dritten Reich, aus dem Krieg, den “Kohlenklau”. Er hing auf Bahnhöfen und an Hauswänden und erinnerte uns pausenlos ans Energiesparen. Seine Absicht war, uns ein schlechtes Gewissen einzuflößen. - Jetzt, nach dem Krieg, wird er lebendig, auf eine ganz andere Art. In den ersten harten Nachkriegswintern sparen wir nicht an Energie, wir haben einfach keine. Oft fällt der Strom aus. Holz und Kohle gibt es wenig oder gar nicht. Womit kochen? Womit heizen? Der Winter ist bitterkalt. Wir wollen alle am Leben bleiben!
Seltsamerweise gibt es Kohle. Aber die wird immer nur durch das Land gefahren. Oder vielleicht aus dem Land heraus? Die Kohlenzüge sind in der Sexta an jedem Morgen vor dem Unterricht das große Thema: Wann solche Züge kommen und wo sie das Bahngelände des Naumburger Bahnhofes durchfahren. Dass sie dort rangieren müssen. Dass sie beim Rangieren auch mal anhalten und dann nur langsam fahren. Dass man da prima aufspringen könnte und ein paar Briketts einsacken. Ja der Wolfgang hat gestern sogar einen ganzen Korb geerntet! Ein anderer, der Klaus, brachte schon wiederholt eine Tasche voll nach Hause. Er wohnt ja auch nicht weit vom Bahngelände entfernt.
Eines Tages lasse auch ich mich genug aufheizen und beschließe: Morgen Abend in der Dämmerung komme ich mit! Also, über die Brücke Richtung Kleinjena, und dann gleich rechts bis zu den Bahnschuppen. Dort kann man sich auch gut verstecken. - Und so geschieht es, mit viel Kribbeln im Gedärm. Als ich hinter dem Schuppen eintreffe, finde ich mich fast in einer Menschenmenge wieder. Jeder versucht sich unauffällig zu bewegen bis ein Zug kommt, langsamer wird und fast nur im Schritttempo vor uns über die Gleise rollt. “Da! Da sind Kohlen!” Und schon springen beherzte Männer oder große Jungen auf die Loren und werfen herunter, was das Zeug hält. Wir anderen rennen nebenher und stecken ein, was wir finden. Plötzlich lautes Geschrei: “Weg da!” Ein “Bahner” wirft mit Briketts nach uns Schattengestalten. Wir verkrümeln uns hinter Schuppenecken. Ich husche in einen der Kohlenbunker. Hier ist es ganz finster. Aber - ich spür’s - es liegen Briketts und Kohlestücken herum. In meine Tasche passen noch einige hinein. Draußen wird es ruhiger. Ich schaue heraus und sehe den erregten Bahner in einiger Entfernung. Das ist die Gelegenheit. Weg bin ich! Noch ein paar Sprünge und ich erreiche die Straße. Hoffentlich kommt kein Polizist! Es kommt keiner. Und nach einer halben Stunde erreicht ein kleiner Held die Privatpension Förtsch, in der er jetzt untergebracht ist, und wo der Kachelofen nun für zwei Tage etwas zum Brennen hat. Morgen in der Schule kann ich endlich mitreden! Aber mir reicht mein Heldentum für alle Zukunft. In die gespenstische Atmosphäre auf den Bahngleisen kriegt mich keiner mehr hin! -
Erst viel später erfahre ich, dass der Kölner Kardinal König gesagt haben soll, dieses Kohleklauen sei keine Sünde. Oder wenigstens, er verstehe die Leute gut und könne sie nicht verurteilen.
Finneexpress (1945-7, mit 11-13 Jahren als Fahrschüler)
Genau 28 km lang ist die Bahnstrecke von Saubach nach Naumburg. So steht es auf den kleinen, braunen Fahrkarten, wirkliche Pappkärtchen von 3 x 5 cm, die der Saubacher Bahnwärter Röbbenak aus einem Kartenständer zieht und in eine Art Beißgerät schiebt. Das prägt das Tagesdatum hinein. Bis zu meinem 10. Geburtstag schneidet er dann immer noch ein Viertel des Kärtchens ab, weil ich bis dahin nur die Hälfte zu bezahlen brauche. Etwa um fünf Uhr in der Frühe faucht der Zug heran. Im Winter sieht man den schönen Funkenflug, weil es ja noch dunkel ist. Die gute Mutter bringt mich um diese Zeit immer an den Bahnhof, weil ich ihr in der Dunkelheit und Kälte so leid tue. Es fällt ihr immer schwer, den Zehn- oder Elfjährigen schon so bald nach vier Uhr zu wecken. Aber ihn allein loszuschicken in die dunkle Kälte draußen, das bringt sie nicht übers Herz. Die Fahrt dauert etwa eine Stunde. Zunächst fährt der Zug von der Finne über Bad Bibra hinab bis ins Unstruttal. Das sind die ersten 12 Km. Von Laucha über Freyburg geht es dann längs der Unstrut bis kurz vor die Saale. Dort wurde in den letzten Kriegstagen die Brücke beschädigt, und es dauerte einige Monate, bis sie wieder passierbar war. Also klettern wir in Roßbach über einen hölzernen Notbahnsteig aus dem kalten Zug und traben die letzten Kilometer zu Fuß weiter. - In umgekehrter Richtung ist es natürlich dasselbe. Leider fahren am Samstag Nachmittag sehr viele Leute aus der Stadt weg, entweder nach Hause oder zum Hamstern. So kommt es vor, dass wir Jungen nicht nur einfach draußen auf dem Perron stehen. Auch der ist voller Menschen. Wir klettern auf die Puffer zwischen den Wagen und machen uns im Funkenflug einen Spaß daraus, sozusagen auf zwei Wagen gleichzeitig zu fahren. In Laucha wartet - wenn wir Glück haben - unser Finneexpress, in den wir umsteigen. Der ist dann natürlich nicht so überfüllt und bietet allen Platz. Der erste Zug fährt weiter an der Unstrut aufwärts bis Artern. Sollte unser Finnebähnchen schon eine Lok haben, sind wir nach einer halben Stunde daheim - wenn wir Glück haben.
Leider kommt es sehr häufig vor, dass kein Zug dasteht und in den nächsten Stunden auch keiner kommen wird. Oder wir setzen uns hinein und warten, manchmal eine Stunde, bis es heißt: “Wir kriegen heute keine Lok mehr. Alle aussteigen!” Das bedeutet, das Köfferchen schnappen und zu Fuß losmarschieren. Zwölf Kilometer liegen vor mir. Über die langweilige Wegstrecke bis Golzen und dann weiter über die Asphaltstraße nach Bad Bibra sind wir immer in Gesellschaft, auch wenn die meisten nur so vor sich hinlaufen. Zum Glück fahren so gut wie keine Autos auf der Chaussee an uns vorbei, denn die gibt es gar nicht oder sie haben kein Benzin. Die letzten fünf Kilometer muss ich meist ganz allein gehen. Sie fallen mir besonders schwer.
Einmal komme ich erst gegen Mitternacht in Laucha an, weil der Zug in Naumburg schon Stunden herumstand, ehe er abfahren konnte. Es ist bitter kalt und im Zug freuen wir uns, dass wir so dicht zusammenrücken müssen. So frieren wir nicht allzu doll. Und natürlich ist in Laucha um diese Zeit gähnende Leere auf dem Bahnhof, als der Zug nach Artern weitergerollt ist. Also - jetzt noch über drei Stunden Fußmarsch durch die Winternacht! Der Schnee knirscht bei jedem Schritt unter den Schuhen. Das Köfferchen zieht an Arm und Schulter. Immer öfter muss ich die Seite wechseln. Und dann kommt die letzte Strecke vor Saubach durch den Wald. Ich bleibe allein, die anderen haben es geschafft. Ich beneide sie heftig. Die Füße werden immer schwerer. Vielleicht sollte ich mich mal einen Moment ausruhen? Ich kann mich ja auf mein Köfferchen setzen. Das hält mich aus. Und schon hocke ich mich am Straßenrand nieder.
Plötzlich träume ich: Ich schlafe. Da durchzuckt es mich: Oh Schreck, ich bin ja eingeschlafen! Das darf man doch auf keinen Fall im Winter! Da erfriert man ja! Ich sehe mich schon als Eissäule. Es ist ein heilsamer Schreck, denn nun laufe ich mit neuer Energie aus Angst vor dem unheimlichem Erfrieren die letzten Kilometer zum Elternhaus. Dort stehe ich nun, und alles ist finster. Natürlich schlafen sie längst. Ich wage nicht zu klingeln, um niemanden zu erschrecken. Ich gehe durchs Tor ums Haus und rufe unter dem Schlafzimmer der Eltern “Hallo!” Meine Stimme kennen sie doch. Dann wissen sie gleich Bescheid. Im Hausflur geht das Licht an und die Tür öffnet sich. “Ach mein Junge! Du kommst doch noch! Du musst ja frieren und müde sein! Komm schnell rein!” Mutter umfängt mich. Nun ist alles gut. [Eine Tagebuchnotiz aus diesen Tagen sagt lakonisch: “Am 8.2. (1947) also am Sonnabend bekamen wir in der Schule die frohe Botschaft, dass wir mit Sonntag vier Tage Kälteferien hätten. Wir schrieen natürlich laut auf. Als ich nach Hause lief, also von Laucha nach Saubach, begegnete mir Vater! Er war mir entgegengekommen.”]
Uta (ca. 1947, mit 12 oder 13 Jahren)
Von dieser berühmten Dame haben wir kleinen Domgymnasiasten natürlich schon oft gehört. Noch öfter sahen und sehen wir sie auf Fotografien. Aber obwohl wir sozusagen Wand an Wand zu ihr die Schulbank drücken, sind wir ihr selbst noch nicht begegnet. Schuld daran ist der Krieg. Sie ist nämlich in einen dicken Betonmantel gehüllt, um sie vor eventuellen Bomben oder Brand oder Splittern zu schützen. Und nicht nur sie ist uns verborgen, sondern alle zwölf “Stifterfiguren”, die im Westchor hinter dem Westlettner des Naumburger Domes stehen.
Was die Stifterfiguren sind? Das sind lebensgroße Steinfiguren, die die einstigen Gründer und ersten Sponsoren des Domes darstellen. Sie lebten allesamt zwischen dem Jahr 1000 und 1100. Gemeißelt wurden sie aber erst nach 1250 von einem unbekannten Künstler. Der wusste natürlich nicht, wie sie ausgesehen haben. Aber er hat sich von ihnen erzählen lassen und es wunderbar verstanden, in ihrer Haltung und im Gesichtsausdruck darzustellen, wie ihr jeweiliges Leben sie gezeichnet haben könnte. Das war in der damaligen Zeit des Mittelalters etwas ganz besonderes. Aber nicht nur damals: Mancher Kenner meint, in den rund zwei tausend Jahren zwischen dem Griechen Phidias und dem Italiener Michelangelo habe es keinen größeren Bildhauer gegeben.
Also, diese berühmten vier Damen und acht Herren sind uns Domschülern so nahe und doch sind wir ihnen noch nicht begegnet. Eines Tages irgendwann nach dem Krieg hören wir aber im Westlettner Hämmern und Steineklopfen. Sofort läuft durch die Schule das Gerücht: “Die Uta kommt wieder frei!” Von nun an schlüpfen wir in den Pausen öfter einmal, wenn sie gerade offen steht, durch eine seitliche Pforte von unserem Schulhof, dem Kreuzgang, in den Dom. Unsere Geduld wird auf eine harte Probe gestellt, denn der Beton ist hart, und die Handwerker meißeln die Figuren mit größter Sorgfalt frei, um sie nicht zu verletzen. Aber eines Tages ist es soweit. Als wir wieder einmal ins Dominnere huschen und an der einen Wand des Westchores hinaufschauen, blickt über den etwas abgenagten Beton das wunderschöne Antlitz der Uta hinweg in eine weite Ferne. Wir können schon sehen, wie sie mit der Rechten ihren Mantel fast schützend vor ihr Gesicht hebt. Wir kleinen Jungen werden still und ehrfürchtig. Denn wir spüren, dass wir einen ganz großen Augenblick erleben dürfen.
Orgelfans (ca. 1947, als 13-jährige)
Der aus dem Krieg zurückgekehrte Domorganist ist jetzt unser Musiklehrer. Wir lieben ihn, weil er so in seine Orgel verliebt ist, die auf dem Westlettner des Doms installiert wurde. Gern führt er uns das Instrument vor mit seinen vielen Registern. Jedes Mal, wenn wir durch den Kreuzgang, der unser Schulhof ist, hinübergehen, zeigt sich die halbe Klasse von seinem Vortrag und Spiel auf den Tasten begeistert und umsteht ihn in dicht gedrängtem Halbkreis. Die andere Hälfte nutzt die Zeit und verschwindet. Nach einigen Minuten tauchen am Dachrand des Domes hinter den Wasserspeiern Tertianerköpfe auf und versuchen von da oben die Passanten tief unten zu erschrecken. Wieder etwas später rennen sie die Wendeltreppe zwischen den Außensäulen eines der Westtürme hinauf bis unter dessen Dachspitze. Wunderbar ist das Bauchkribbeln, wenn wir von dieser Höhe hinunterschauen! Und dann schnell wieder hinunter, damit unser Musikdirektor Dr. Walter Haacke nichts merkt. Denn in der nächsten Woche - so will es die Kameradschaft - darf die andere Klassenhälfte den Dom erforschen und wir werden von den vielen Registern berauscht sein.
Der “Bibbern” ein kleines Denkmal
Viele Jahre habe ich mit zwei anderen Jungen vom Land bei ihr gelebt. Sie war uns über die Woche eine pflichtbewusste Mutter. Das Wochenende verbrachten wir gewöhnlich daheim in Saubach. Aber während der Schulwoche war ihre Wohnung unser Zuhause. Hier saßen wir an ihrem Tisch und hatten immer genügend zu essen. Hier machten wir unsere Schulaufgaben, und sie achtete auf korrektes Erledigen derselben. Anfangs übte sie mit uns das Rechnen und das Rechtschreiben durch Diktate. Sie regte uns zu Spielen miteinander an und duldete es, dass wir uns gelegentlich im Korridor der kleinen Etagenwohnung prügelten. Sie nahm uns mit in ihr Schrebergärtchen und auch auf die Hamstertouren nach Schellsitz, wo sie bei z.T. bekannten Bauern etwas Essbares aufzutreiben suchte. Diese Hamstergänge mochten wir gar nicht. Aber Hunger hatten wir immer, also gab's kein Ausweichen. An Ihrem Klavier durfte ich für die Klavierstunde üben. Später ertrug sie mein Kratzen auf dem Cello. Behutsam beobachtete sie meine Liebschaften und begleitete mich stützend durch die Ängste vor dem Abitur. Der Kohlenkasten in ihrer Küche war ein geschätzter Beichtstuhl.
Ich denke gern an die Bibbern. Eigentlich heißt sie Frau Förtsch, ist die Witwe eines Juristen vom Naumburger Oberlandesgericht und muss sich nun nach dem Krieg mit ihrem Sohn Christian durchschlagen. Christian geht auch auf das Domgymnasium, aber zwei Klassen über mir. Im Herbst 1945 gründete sie in Ihrer Wohnung in der Barbarastraße eine Kleinpension.
Bald danach ziehen wir aber mit ihr und ihrem Sohn in die Grochlitzer Straße um, weil die Russen der Barbarakaserne die ganze gegenüberliegende Häuserzeile, in der wir wohnen, für ihre Offiziersfamilien beschlagnahmen. Hier liege ich nächtelang in Wachträume gehüllt, als mich die erste Liebe überrumpelt. Und darum bekomme ich mit der Bibbern ernste Schwierigkeiten, denn sie fühlt sich auch an dieser Front für mich verantwortlich.
Der Spät-Heimkehrer
Vom oberen Treppenhausflur in der Grochlitzer Straße gelangt man in die Küche und in ein großes Durchgangszimmer, unseren gemeinsamen Wohnbereich. Von dort führt an der rechten Wandseite eine Tür zum Schlafzimmer vom Mutter und Sohn Förtsch, der allerdings in den beiden letzten Jahren schon anderswo studiert. Ganz hinten links erst gelangt man in unser “Pensionärszimmer” . Die Raumaufteilung ist im Grunde ideal. Sie hat nur einen Nachteil: im Wohnzimmer knarren die Dielen. Und wenn ich mich wegen der endlosen abendlichen Spaziergänge mit der Freundin sehr verspäte, gelange ich nicht unbemerkt in mein Bett. Und nicht ohne nächtliche Standpauke. Wie lässt sich diese vermeiden? Als ich einmal über Tag allein in der Wohnung bin, versuche ich die Dielen und die Stellen herauszufinden, die beim Betreten kein Knarrgeräusch von sich geben. Ich präge mir ein: gleich nach der Eingangstür zur Wohnstube rechts halten zwischen den Polstermöbeln hindurch; dann auf dem Läufer am Schlafzimmer der Bibbern vorbei vorsichtig Tiefe gewinnen. An der hinteren Wand knarrt nichts mehr. So präpariert, schleiche ich nach der nächsten “Sünde” ins Haus und nach oben. Es gelingt mir, die Tür lautlos zu öffnen und im Dunkeln nicht an die Polstermöbel zu stoßen. Ohne Knarren setze ich meinen Fuß auf den Läufer. Noch ein Schritt und noch einer - da öffnet sich die Schlafzimmertür. In ihrem Rahmen steht mit aufgelöstem Haar im wallenden Nachtgewand und ohne Zähne die Bibbern. (“Misst! Alles verleidet sie einem!”)
Berechtigte Frage
Wie kam sie zu ihrem Namen? - Sie versteht es, einen wunderbaren Pudding zuzubereiten. Der ist mal rötlich, mal gelblich oder auch grün und immer durchsichtig. Wir loben sie: “Der ist wunderbar! Süß und säuerlich. Den könntest Du jeden Tag machen!” “Und es macht auch Spaß, den zu essen, weil er so wackelt. Ein richtiger Wackelpudding.” Geschmeichelt erzählt sie, dass es den auch bei ihnen zu Hause schon gegeben hat in Wolfenbüttel. Dort hätten sie dazu “Bibberpudding” gesagt oder “Bibber”. Hans Zippel sitzt mir gegenüber. Beim letzten Satz blinzelt er mir zu, blickt dann mit einem kleinen Nicken zur Pensionsmutter, die öfter auf eine ganz eigene Weise mit ihrem Kopf zu wackeln beliebt, und grinst zu allem Überfluss auch noch meinen Bruder Karl an. Natürlich bemerkt sie unsere einvernehmliche “Stille Post” und meint sofort: “Nun habe ich wohl meinen Spitznamen weg, was? - Jetzt bin ich für Euch sicher nur noch die Bibbern.” Alle müssen lachen. Sie behält Recht, aber es ist von Anfang an ein Spitzname ohne Harne. Kluge Frau!
Die Oma
“Die Oma” - das ist ein Begriff! Das ist nicht irgendeine Oma. “Die Oma” ist die Großmutter von meiner Freundin Sieghild und ihren Geschwistern. Oma Kränzke wohnte vor und seit der Flucht aus Schlesien lange zusammen mit der Familie ihres Sohnes Herbert. In früheren Jahren versuchte sie immer wieder, das Regiment zu führen. Für Ihre Schwiegertochter waren es nach meinem Hörensagen oft recht bittere Zeiten.
Als ich sie dann kennen lerne, ist sie schon “domestiziert”. Bei Tisch versucht sie zwar noch immer, ihrem Herbertel das dickste Stück Fleisch und den zartesten Spargel zuzuschieben. Das vollste Schüsselchen mit Nachtisch zieht sie freilich zu sich selbst heran. Und beim abendlichen Romme spielen nimmt sie sich heraus, auch mal zu eigenen Gunsten zu schummeln und ihren Enkel Theo mit “verflischter Kerle!” zu belegen, wenn er sie dabei ertappt. Für mich ist sie ein nettes Mitglied der Familie, in der ich sehr gern zu Gast bin.
Eines Tages aber zieht Oma Kränzke ins Altersheim nach Naumburg. Das liegt nicht sehr weit von unserer Schule entfernt. Dort besuchen wir sie gelegentlich. Ihr ist das anscheinend aber zu wenig. Darum macht sie sich selbst auf den Weg - zur Schule. Sie weiß: dort sind “die Kinderle” am Vormittag. Sie weiß nicht, wann dort die Pausen sind. Das ist ihr auch gleichgültig. Was sie dagegen wieder genau kennt, das sind die Klassentüren von Theo und Sieghild. Es kann also geschehen, dass wir gerade Deutsch oder Mathe oder Geschichte haben, Fächer, in denen wir Jungen vom einstigen Domgymnasium mit den Mädchen vom ehemaligen Lyzeum den Raum und die Lehrer teilen. Da klopft es an die Tür. Gleich darauf öffnet sich diese auch schon und im Türspalt erscheint das Gesicht von Oma. “Ich möchte mal meine Enkelin, die Sieghild sprechen!” Der ist es ein wenig peinlich, aber sie geht schnell mit einem “Verzeihung!” zur Lehrerin hin vor die Tür nach draußen. Als sie zurückkommt, möchten alle gern wissen, was es so Wichtiges gab. Sie hebt etwas verlegen ein Päckchen in die Höhe: ein Butterbrot, das die Oma vom gestrigen Abendbrottisch für die armen Kinder gerettet hatte.
Oma ist eben eine Frau, die tut, was sie für richtig hält. Da kennt sie nichts. Und sie tut es nicht nur einmal. Als es ein andermal an die Tür klopft, läuft sofort ein Raunen durch den Klassenraum: “Die Oma!” Vielleicht ist es diesmal ein Stück Kuchen oder eine ganz wichtige Botschaft für die Eltern oder auch nur die Frage, ob sie nicht wieder mal jemand besuchen kommt. Den Lehrern ist Oma inzwischen bekannt; sie schmunzeln nur nachsichtig.
Gelegentlich verirrt sich Oma auch in die Pausen des Schulbetriebes. Kaum nähert sie sich der Außentreppe oder schiebt sich mit ihrem Krückstock durchs Eingangsportal, tönt es aus unterschiedlichen Kehlen durch die Gänge und über den Schulhof: “Die Oma! Die Oma! - Sieghild! - Theo! - Die Oma ist da!!”