Da steigt auch noch Freund Theo aus der Parallelklasse zu, in seinem Schlepptau mit seiner Schwester, die ich bisher nur heimlich und aus der Ferne bewunderte. Selbstverständlich bieten wir Brüder den älteren unter den Zugestiegenen unsere Plätze an. So komme ich neben der Schönen zu stehen. Schüchtern wechseln wir erste Worte; ich verliere langsam meine Angst vor diesem Mädchen. Ich spüre den Drang, Kavalier zu sein, und biete ihr meinen etwas bequemeren Fensterplatz an. Jetzt werde ich ganz mutig und wage, sie anzuschauen. Da geschieht es: Unsere Blicke begegnen sich, bleiben aneinander haften, widerstehen dem gewohnten Drang, einander auszuweichen. Nicht endlos, aber lange genug währt dieser Augen-Blick, um zu fühlen, wie es heiß in mich eindringt und mich so aufrührt, wie ich’s noch nie verspürte. Ich verliere mich in den Augen mir gegenüber. Irgendwo in der Ferne plaudert Theo vor sich hin. Vielleicht hört ihm mein Bruder zu. - Bald schon sind wir in Laucha, wo sich unsere Bahnen trennen. Doch ich gehe durch die folgenden Tage wie auf Wolken. Immer wieder sehe ich diese Augen vor mir und weiß, dass es sehr, sehr schöne Augen sind.
Demo gegen den Koreakrieg
Es ist schon skurril, welcher Mittel sich das Schicksal bedient, um zwei Menschen einander näher zu bringen! Kurze Zeit später ist auf dem Naumburger Markt eine Demonstration angesetzt. Die letzten Schulstunden des Samstag fallen aus, damit die Schüler geschlossen aufmarschieren können. Der Koreakrieg ist ausgebrochen und in der DDR soll natürlich Stimmung gegen die "angloamerikanischen Kriegstreiber unter der Führung von Mac Arthur" geschürt werden, obwohl es die Nordkoreaner waren, die den Süden überfielen und zunächst fast vollständig eroberten, um so die Einheit ihres Landes zu erreichen. Doch uns Halbwüchsige interessiert das blutige Geschehen in dem fernen Land nur am Rande. Zu sehr sind wir mit uns selbst beschäftigt.
Schwätzend marschieren wir Richtung Markt zum Podium vor dem Rathaus. Die Fahrschüler haben schon ihr Wochenendgepäck bei sich, so wie ich. Theo fällt das auf und sofort informiert er seine Schwester, die wie ich wieder mit dem gleichen Zug heimfahren will. Mir wird recht bange: Was soll ich mit ihr sprechen? Wie unterhält man sich mit einem Mädchen und worüber? Wenn man allein mit ihr ist, ohne Gruppe oder wenigstens einem Dritten? Ich wage den "Sprung ins Wasser". Mühsam kommt eine Plauderei in Gang. Als sich dann aber doch noch jemand Drittes zu uns gesellt, spüre ich trotz der Erleichterung Unwillen über die Störung.
Schnellkurs unterm Schuldach
Bald danach plant die Mädchenklasse vor den Sommerferien ein Klassenfest auf der Schönburg mit Speis und Tanz - und selbstverständlich mit den Lehrerinnen. Theo deutet an, dass seine Schwester einen Partner sucht. "Aber Du brauchst keine Angst zu haben. Ich hab’s ihr schon ausgeredet und beigebracht, dass du ja gar nicht tanzen kannst, Jaggy." Ich bin erleichtert und dennoch unzufrieden. "Sag mal, kannst Du es mir nicht zeigen?" Er beißt sofort an. "Das machen wir, Jaggy! Das kriegen wir hin! - Nur, wo können wir ungestört üben?" - "Eh, da findet sich schon was, irgendein Raum in der Schule, bestimmt!" "Also gut. Meine Schwester macht bestimmt mit. Und vielleicht auch ihre Freundin. Ich kenne sie ganz gut."
Mit einem geliehen Grammophon bewaffnet schleichen sich nachmittags drei Jungen ins Dachgeschoss der Schule, wo der "Tanzkurs" zunächst als eine Art Trockenschwimmen nur "unter Männern" beginnt. Dort oben hatten wir einen offen stehenden, aber sonst wohl ungenutzten Raum entdeckt. Beim dritten Treffen kommen die Damen dazu. Heute ist es das erste Mal, dass ich ein Mädchen meines Alters berühre! Ich bin ganz benommen. Die ersten Tanzschritte geraten folglich trotz verbissenen Zählens mehr zu einem Treten und Trampeln. Doch es dauert gar nicht lange und der Rhythmus bringt Harmonie in die Bewegungen und Hoffnung auf mehr Eleganz. Die Stimmung ist bestens -
Da lässt uns Schlüsselrasseln vor der Tür aufhorchen. Sofort halten wir das Grammophon an und verhalten uns mäuschenstill. Doch schon rasselt es auch an unserer Kammertür, die wir von innen mit einem Stuhl behängt hatten, weil sie immer aufging. Der Stuhl poltert zu Boden, die Tür springt auf und in ihrem Rahmen steht dünn, hochnäsig und kalt die Sekretärin des Direktors. Wir atmen auf, denn es ist kein Lehrer. Nach kurzem, aber peinlichem Verhör dürfen wir abziehen. Aus der Traum vom intimen Tanzkurs! Wir trösten uns damit, "dass es schon gehen wird".
Klassenfest auf der Schönburg
Und dann erfolgt tatsächlich ihre Einladung! Erschreckt und überglücklich in einem sträube ich mich: "Du weißt doch, ich kann nicht tanzen!" "Doch, ein bisschen kannst Du doch!" Und nach einem weiteren Zögern meinerseits kommt mit unschuldigem Augenaufschlag die süße Bitte: "Och Hänschen! Sag doch ja!" Da sagt Hänschen "Ja." Ein Ja mit Konsequenzen für Jahrzehnte! (Heute sind wir Großeltern von sieben Enkeln.)
Noch richte ich mich nach dem, was die andern Pärchen so tun, und lasse, was sie nicht tun. - Das Fest auf der Schönburg nimmt seinen Gang. Sachte, sachte gelingt uns beim Tanz das eine und das andere. Und da schaue ich wieder in diese Augen. Und sie scheinen mir noch viel schöner, als damals im Finne-Express.
Leider lassen sich die anwesenden Lehrerinnen der Mädchenklasse nicht erweichen und bestehen auf dem Ende der Veranstaltung um elf Uhr. Scheinbar widerwillig packen wir ein und ziehen paarweise oder in Grüppchen davon. Nach einigen Zwischenspielen gelingt es allen, sich von den Pädagoginnen zu entfernen, und unter stürmischer Begrüßung im Tanzlokal "Felsenkeller" wieder aufzutauchen. Dort "toben" wir wenigstens noch bis ein Uhr durch. Auf dem Heimweg überrascht uns ein heftiger Regen. An ihrem Hauseingang in der Bürgergartenstraße sagt zum ersten Male ein Mädchen zu mir: "Bleibe doch noch ein bisschen!" und fügt listig hinzu: "Es regnet ja wieder stärker." Erst später dämmert mir, was sie wohl gemeint haben könnte. Aber im Augenblick mime ich den Helden und stürme durch die Regenböen meiner Pension zu.