Dazu meine Erinnerung: Am 5.3.1953 starb der “Führer des Weltfriedenslagers J.W. Stalin”. Nach dem Bekanntwerden dieses Todesfalles rief die Schulleitung alle Lehrer und Schülerin der Aula zusammen. Auf der Bühne - neben dem mit Trauerflor behängten Stalinbild - standen ein Schüler und eine Schülerin, beide Angehörige der FDJ-Leitung. Die Schülerin zeigte ein total verweintes Gesicht. Im Verlauf der Trauerfeier wurden alle Anwesenden gebeten, sich zu erheben und 5 Minuten still des Verstorbenen zu gedenken. Das Stehen hielten wohl alle durch. Das stille Gedenken jedoch war nicht jedermanns Sache. Verständlicherweise kam es unter einigen Schülern zu Tuscheln und Gekicher. Diese ganz natürliche Reaktion löste ein Kesseltreiben aus. Beobachter, die auf der Empore gestanden hatten, benannten 9 Schüler, die angeblich “ihre feindliche Haltung durch provokatorische Störungen” bekundet hätten. Bei einer weiteren Vollversammlung wurde ich aufgerufen, zu dem Vorfall Stellung zu nehmen. Ich weiß nicht mehr, was ich gestammelt habe. Es war auch nicht entscheidend. Das Urteil stand längst fest und wurde vollstreckt: 7 der denunzierten Schüler wurden als “republikfeindliche Elemente” von der Schule entfernt.
Zur gleichen Zeit wurde auch eine Gruppe Lehrer angegriffen. 4 von ihnen erhielten die fristlose Kündigung. Man verleumdete sie als “reaktionäre Lehrkräfte” und beschuldigte sie u.a., die “Wissenschaftlichkeit des Unterrichts” vermissen zu lassen. Dabei waren drei der Beschuldigten promovierte Pädagogen, alle waren in ihrer Berufsausübung überzeugend und deshalb auch von der Mehrheit der Schüler geachtet.
Wie sind diese Vorgänge zu verstehen? Kann man einen Zusammenhang mit dem Tod Stalins aufzeigen? Ich denke ja.
Ab 1950 besuchte ich die Naumburger Oberschule und kam damit in eine Phase, wo alle Schulen der DDR gemäß Parteivorgaben ein sozialistisches Profil finden sollten. Da mußten sich nun Lehrkräfte, die noch andere Bildungsziele kennen gelernt hatten, an Pädagogen orientieren, die der Partei verpflichtet waren. Schüler, die aus kritisch eingestellten Elternhäusern kamen, mehrheitlich einer Kirche angehörten und zum großen Teil die Junge Gemeinde besuchten, trafen auf eine Schülerminderheit, die der FDJ und den neuen Parteien zuneigte. Diese parteilichen Lehrer und Schüler hatten zwar längst alle Machtpositionen besetzt. Sie wurden ja von den staatlichen Organen gestützt. Aber sie fühlten sich wohl noch nicht sicher etabliert. Ihr höchster Garant - hinter den staatlichen Organen - war natürlich die Sowjetunion, personifiziert in dem Generalsekretär der KPDSU J. W. Stalin. Und nun war dieser Garant, der göttliche Stalin, gestorben. Ein Vakuum war entstanden und damit eine große Verunsicherung. Letztere führte zu den extremen Reaktionen, wie ich sie oben skizziert habe und wie sie die Situation in der ganzen damaligen DDR kennzeichnete. Der göttliche Stalin: 1952 sah ich in einem Schaufenster am Naumburger Markt eine Huldigung. Ein Vers hat sich mir, der ich als Christ in der Jungen Gemeinde engagiert war, tief eingebrannt:
Ewig keimen wird der Same,
ewig grünen wird das Feld,
wie die Sonn wird Stalins Name
ewig scheinen auf der Welt.
Für mich eine Blasphemie! Stalin war kein Gott. Die meisten Mitschüler sahen das ebenso. Nicht aber seine Anhänger. Das zeigt das Erlebnis aus einer 10. Klasse der Naumburger Oberschule, von dem ich durch meine damalige Freundin erfuhr. Nach der Nachricht vom Tode Stalins kam eine Mitschülerin - jene oben genannte FDJ-lerin - heulend in das Klassenzimmer. Echte Trauer bewegte sie. Zuvor waren jedoch durch einige Jungen dem Bildnis Stalins, das im Raum hing, die Augen ausgestochen worden. Als sie das entdeckte, heulte sie nicht nur, sondern lief laut schreiend aus ihrer Klasse wieder hinaus.
Wochen später wurde mit einem Stein ein Fenster in der Wohnung jener Schülerin eingeworfen. Der Vater, Elternbeiratsvorsitzender, hatte durch Briefe und Presseäußerungen jenes Kesseltreiben an der Naumburger Oberschule mit in Gang gesetzt. Deshalb vermuteten seine Leute sofort einen Zusammenhang zwischen dem Steinwurf und den Vorgängen an der Schule. Die damalige Parteipresse bauschte das Einwerfen des Fensters sogar zum Mordanschlag auf. Und nun blies man richtig zum Kampf. Ich persönlich habe zwar nur die Attacke des Direktors gegen unsre ganze Klasse erlebt. Aber viele Schüler wurden einzeln in die Zange genommen. Für mich war günstig, dass gerade Frühlingsferien begannen und ich aufs Dorf zu meinen Eltern fahren konnte. Andere Klassenkameraden indes wurden sogar von den Sicherheitsorganen abgeholt und verhört. Viele flohen. Als ich nach den Ferien wieder nach Naumburg fuhr, riet mir mein Vater auch zur Flucht. Die 11. Klasse, der ich in Naumburg angehörte, wurde - mangels Masse - aufgelöst. Die verbliebenen Schüler verteilte man auf andere Klassen. Die Geflohenen traf ich in Westberlin wieder. Von dort aus suchten und fanden wir Anschluss in diversen westdeutschen Bildungseinrichtungen. Wunderbarerweise hat sich aber unter den seit der 11. Klasse Verstreuten eine echte Bindung erhalten. Sie zeigte sich schon immer in privaten Begegnungen und ist seit der Wende in regelmäßigen Treffen neu bestärkt worden.
Gemäß meinen Erinnerungen an die Naumburger Oberschule muss ich freilich noch etwas hinzufügen: Es gab zum Glück nicht nur die beschriebenen schlimmen Vorgänge. Wir erlebten auch ganz normalen Unterricht, fröhlichen Klassenjux, bunte Feste, prägende Gemeinschaft.
Selbst im März 1953 feierten wir noch im Rathaussaal ein gelungenes Schulfest mit dem Titel: “In ganz Deutschland ist man fröhlich”. Da ich auch außerschulisch Geräteturnen trainierte, beteiligte ich mich an einer für das Fest zusammengestellten Riege, die dem Andenken von Turnvater Jahn gewidmet war. Ein Jahr zuvor, im März 1952, gab es im Rathaussaal ein herrliches Schulfest unter dem Thema: “1001 Nacht”. Die Jungs aus unserer Klasse mimten dabei in orientalischer Aufmachung - ohne Ball - ein Fußballspiel, das großen Applaus fand. In der Aula der Schule selbst waren wir noch bis Anfang 1953 bei Tanzfeten locker zusammen, nicht nur die Schüler, auch etliche Lehrer und der Direktor.
Außerdem ist ein Stück fröhlicher Erinnerung die Tanzstunde. Sie ist zwar kein Verdienst der Schule, hängt aber doch mit dieser zusammen. Ende 1952 beteiligten wir uns als Jungen aus der Klassenstufe 11 an einem Kurs bei Mathilde Döring. Wir trafen im Rathaussaal neben andern auch die “Damen” aus den 10. Klassen. Der Kurs war für alle Teilnehmenden ein aufregendes Ereignis. Für mich brachte er neben der Freude am Tanzen sogar die Verbindung zu einer Schülerin, die ich 1962 nach meiner Rückkehr in die DDR geheiratet habe. Inzwischen sind wir über 40 Jahre zusammen.
Leider habe ich aufgrund meiner Flucht im April 1953 nicht mehr miterleben können, wie danach die Naumburger Kirschfeste neu belebt wurden. Das bedaure ich vor allem deshalb, weil meine damalige Freundin 1954 als Gerburg und ab 1955 dreimal als Uta im Festumzug mitschritt. Später entdeckte unsere Tochter einmal mit Ausrufen des Erstaunens die Mutter auf ausgestellten Fotos im Naumburger Museum.