größten Schulen in der Stadt Naumburg. Dementsprechend war auch das neue Schulhaus eingerichtet. Der große rote Klinkerbau hat auch noch heute in seiner Front und seinen Ausmaßen durch seine Schlichtheit und Nüchternheit etwas Kasernenartiges an sich. Da ich aus der Siedlung vom Mägdestieg kam, mußte die Umgebung für mich zunächst fremd wirken.
Zudem wurde ich schon wochenlang vor Schulbeginn mit den Hinweisen konfrontiert: “Na warte nur, wenn du erst zur Schule kommst!” Nun war es soweit, dass man mit gemischten Gefühlen das Haus betrat - die erste Treppe hinauf, die langen Flure entlang, die vielen Türen rechts bzw. links, von denen sich eine mit der Aufschrift “Klasse 8 b” für uns öffnete. Der große hohe Klassenraum mit seinen nüchternen Wänden und den geheimnisvollen Gerätschaften wie Wand- und Schiefertafeln ernüchterte mich vollkommen. Der Lehrer, Herr Weber, der uns ABC-Schütze in Empfang genommen hatte, bemühte sich, sich von der besten Seite zu zeigen. Trotzdem herrschte Benommenheit und abwartendes Schweigen. Das kam um so mehr zum Ausdruck, als der Lehrer die begleitenden Eltern bat, den Klassenraum zu verlassen, damit er mit seinen Schülern persönlichen Kontakt finden konnte. Das Gegenteil war zunächst das Ergebnis. Einer fing an zu schluchzen, als er seine Mutter nicht mehr sah, andere stimmten ein. Hier zeigte sich die Wirkung der wochenlangen vorherigen Einschüchterung. Wir ängstigten uns weniger vor dem Lehrer als vor der ungewohnten Situation, die unseren Kinderalltag verändern sollte. Als die Wandtafel herumgedreht wurde, strahlte uns ein großer, bunter Zuckertütenbaum entgegen, die Tür öffnete sich und unsere Eltern überreichten uns die gefüllten Zuckertüten. Sofort war die Angst verflogen. Aber alles, was zunächst befremdete, verband uns miteinander, zumal die neue Gemeinschaft uns zusammenschweißte.
Für 45 Knaben begann ein neuer Lebensabschnitt. Da sass der Sohn von Kaufmann Bergert neben dem Musiker Riccardo Reißweck, der Sohn des Schuhmachermeisters Panse neben dem Sohn des Schneidermeisters Rammelt. Viele Väter meiner Klassenkameraden waren in Leuna tätig. Der Vater von Mitschüler Friedrich war Studienrat am Domgymnasium. Horst Böhmes Vater fuhr die Naumburger Straßenbahn. Schwierigkeiten gab es durch den Lehrer Herrn Weber bei den Zwillingen Günter und Rolf Eckardt. Meistens wurde der falsche bestraft.
Für alle mußte der Lehrer nun einen gemeinsamen Nenner finden. Zur Osterzeit ließ er uns Eier und Hasen malen. Nun mußten wir uns auch mit dem Schreiben beschäftigen und bald kritzelten die Schreibgriffel über die Schiefertafeln der Schüler. Während der Grundschulzeit lernten wir drei Schriftarten: die Sütterlinschrift, die Lateinschrift und im September 1941 wurde durch die Verfügung des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung die bisherige Lateinschrift als Deutsche Normalschrift und alleinige Schreibschrift eingeführt. Bald kam auch das Rechnen und Lesen zum Lehrplan hinzu, so dass nach einem halben Jahr die ersten sechs Noten im Schulzeugnis ihren Niederschlag fanden. Ich war zufrieden.
Im nächsten Schuljahr (Klasse 7 b) wurde der Lehrplan um Religion, Rechtschreibung, Musik und Turnen erweitert. So wuchsen von Jahr zu Jahr die Leistungsanforderungen, so dass nach vier Grundschuljahren 15 Noten im Zeugnis den Leistungsstand aufzeigten. Am Ende der Grundschulzeit - inzwischen waren wir in die Klassenstufe 5 versetzt worden - verließen einige Schüler die Georgenschule und wechselten zur Mittel- bzw. Realschule und zum Domgymnasium.
Der Rest der verbleibenden Schüler der Grundschulklassen wurde in zwei Klassen verteilt und wir mußten ab Ostern 1940 die 5. Klasse nochmals durchlaufen (bisher wurde man in die 8. Klasse eingeschult und nach acht Schuljahren in der 1. Klasse entlassen). Nun wurde Herr Paul Büschel unser neuer Klassenlehrer der 5 a. Das schönste am Montagmorgen in der 1. Stunde war die “Sparstunde”. Im Jahr 1939 feierten wir das letzte Kirschfest. Im Jahr zuvor wurde das Fest umgestellt, denn alles, was an die Hussiten erinnerte, mußte wegfallen. Es wurde als “Fest des Lebens” mit bunten Bändern, Kirschen und “dem Grünen” neugestaltet. Alljährlich wurden Fahnenträger und -begleiter jeweils ausgelost. Und es war eine große Ehre, als Fahnengruppe die Parallelklassen der Marien-Mädchenschule beim Festumzug zu begleiten. Durch die schrecklichen Kriegsfolgen wurden dann die Feste am Schuljahresende 1940 gänzlich eingestellt.
Da unser Rektor Herr Haunert und andere Lehrer im Jahr 1940 zum Militärdienst einberufen wurden, folgte ein ständiger Wechsel in der Lehrerschaft. Teilweise übernahmen Lehrerinnen den Unterricht. Im 6. Schuljahr betreute uns nochmals Herr Weber, welcher auch als stellvertretender Rektor amtierte. Über die Kriegsjahre gibt es weniger Erfreuliches zu berichten.
Besucht wurde das Heimatmuseum in der Grochlitzer Straße, worüber auch Aufsätze geschrieben werden mußten. Besonders erlebnisreich war eine Turmbesteigung zum Türmer Wilhelm Schunke auf der St.Wenzels-Kirche. Nach dem Wechsel von der Mittel- zur Oberstufe wurde uns Martin Hülgenhof als Klassenlehrer zugeteilt. Unser Klassenzimmer war nunmehr der Chemie- und Physikraum, der stufenförmig angeordnet war. Im Jahr 1943 erlernten wir das Schwimmen in der Flußbadeanstalt der Saale in Roßbach bei unserem Turnlehrer Banse. Unser Klassenlehrer Herr Hülgenhof, von uns nur “Martin” genannt, stammte aus der Lüneburger Heide und war ein leidenschaftlicher Naturfreund und Jäger. Wenn wir besonders brav und fleißig waren, wurden uns Geschichten von Hermann Löns erzählt bzw. aus seinen Büchern vorgelesen. Besonders die Tierbücher “Mümmelmann” und “Hasendämmerung” sind mir in steter Erinnerung. Zu dieser Zeit wurden auch mehrere Schulen der Stadt in Kriegslazarette umfunktioniert. Das beeinträchtigte wesentlich den Unterricht. In die Georgenschule kamen die Mädchen der Marienschule. Es wurde streng auf Sitte geachtet. Entweder erfolgte der Unterricht wechselweise vor- oder nachmittags bzw. die Pausenzeiten waren so gelegt, dass wir mit den Mädchen nicht in Kontakt kamen. Von Vorteil war in den letzten Kriegsjahren die nächtlichen Luftalarme in Naumburg. Dadurch brauchten wir am nächsten Tag erst später zum Unterricht zu erscheinen. Unser letzter gemeinsamer Wandertag führte uns im Sommer 1943 nach Schloss Burgscheidungen und ins Waldbad Bad Bibra.[Bild] Bei unserem Klassenlehrer Herrn Hülgenhof haben wir die Bildung erfahren, die uns nach der Schulzeit in der Berufsausbildung von großem Nutzen war.
Alle Schüler der Klasse 8 a erfüllten die Volksschulpflicht. Am 25. März 1944 wurden uns die Abschlusszeugnisse überreicht und wir wurden in das Erwachsenenleben entlassen. Das letzte Schuljahr fiel in das vorletzte Kriegsjahr. Mehrere Klassenkameraden kamen noch zum Einsatz im Volkssturm und waren am Ende froh, als die Amerikaner im April 1945 einrückten, “mit Haut und Haaren” davongekommen zu sein. Trotz schwieriger Nachkriegszeiten gelang es schließlich allen, einen ordentlichen Beruf zu erlernen. Einige studierten und promovierten, anderen wurden Facharbeiter und Angestellte.
Durch die Nachkriegsjahre und die Bildung von zwei deutschen Staaten im Jahr 1949 verloren sich die Klassenkameraden aus den Augen. 1986 gab es eine erste Kontaktaufnahme zu einem Klassentreffen. Doch ein Treffen in der damaligen DDR war nur mit polizeilicher Genehmigung möglich. Andererseits konnten Klassenkameraden, die in die BRD übergesiedelt waren, sich nicht mit Klassenkameraden “Genossen” und “Geheimnisträgern” treffen. Durch die Wiedervereinigung im Jahr 1990 wurde nun der Gedanke von einem Klassentreffen Realität. Weihnachten 1991 wurden dazu die ersten Vorbereitungen im “Halleschen Anger” getroffen. Am 4. April 1992 fand ein erstes Klassentreffen in Naumburg von 17 ehemaligen Georgenschülern der Klasse 8a statt. Nach 48 Jahren besuchten wir gemeinsam unsere “alte Schule”. Seitdem wird alljährlich die persönlich Begegnung mit Ehefrauen und Lebensgefährtinnen durchgeführt.