Kindern, die dann den Haushalt verrichteten, zurück.
Unsere Mutter, Derkje Johanna Mulder, reiste damals mit dreien ihrer Kinder, Jan und Christel, die diese Geschichte erzählen, und Irmgard, die leider schon tot ist. Zunächst wurden wir im Haus der Familie von Bychelberg, Grochlitzer Straße 44, einquartiert. Haus ist jedoch untertrieben, es war vielmehr ein Herrenhaus oder eine Villa. Frau Eva von Bychelberg haben wir in Erinnerung wie eine der vornehmen adeligen Damen in den Filmen. Ihr Bruder war vom Kaiser geadelt worden, und sie sah es wohl als ihre patriotische Pflicht, eine Familie aus dem Ruhrgebiet bei sich aufzunehmen. Wie genau der Kontakt mit ihr zustande kam, wissen wir leider nicht mehr. Unsere Mutter stand damals in reger Korrespondenz mit einer Ordensschwester Margarethe, und wir vermuten, dass diese wohl Frau von Bychelberg fragte, ob man nicht einer frommen Arbeiterfamilie aus dem Ruhrgebiet helfen könne. Womit sicher keiner gerechnet hatte, war, dass unsere ebenso kluge wie strenge Mutter seit jeher eisern auf das Benehmen und die Ausdrucksweise ihrer Kinder geachtet hatte. So hat Frau von Bychelberg, nachdem sie einmal auf uns drei aufgepasst hatte, völlig fassungslos unserer Mutter gesagt, sie habe nie gedacht, dass Arbeiterkinder sich so gut benehmen könnten. Das sollte jedoch nicht die letzte Überraschung für sie sein.
Wir Kinder gingen in Naumburg zur Schule, das heißt Jan wurde dort eingeschult und Irmgard später sogar konfirmiert! Sie fand auch eine gute Freundin, Regina Rammelt, die später in Gera wohnte und die wir nach der Wende kurz besuchten.
Wir sehen Mutter noch jeden Tag ängstlich vor dem Radio sitzen und die schlimmen Nachrichten aus dem Ruhrgebiet hören. Wovon genau wir die ganze Zeit in Naumburg gelebt haben, wissen wir nicht, vermutlich hat Frau von Bychelberg uns durchgefüttert. Unsere Mutter wusch und bügelte zusätzlich für einen Dr. Brosche, der auf der Claudiusstraße wohnte. Wir glauben uns auch daran zu erinnern, dass Irmgard für einige Zeit in einem Geschäft arbeitete, in dem es Fondant zu kaufen gab.
Zum Weihnachtsfest 1943 in Naumburg zog Irmgard, die Älteste, uns anderen beiden besonders gut an und es ging zu einem Naumburger Fotografen. Mutter sollte zu Weihnachten ein Bild ihrer drei mitgereisten Kinder bekommen. Das Bild gibt es auch heute noch!
Eines der Nachbarskinder, ein rothaariger Junge namens Heinz Vöckler, ereiferte sich einmal sehr, weil wir nicht wussten, was eine "Bemme" ist. Das Haus, indem er wohnte befand sich nach unserer Erinnerung auf dem "Frauenplan" und hatte einen Dachgarten. So etwas hatten wir Kinder noch nie gesehen! Wir sahen auch richtig feine Damen auf der Straße, mit Hut und Handschuhen, die kleine Schirme oder Spazierstöcke mit Rollen darunter hatten, und zusätzlich einen Haken, um die Handtasche daran aufzuhängen und spazieren zu fahren.
[Amerikaner in Naumburg]
Das Kriegsende haben wir so in Erinnerung: Amerikanische Panzer rollen langsam über die Straße, die Soldaten mit der Waffe im Anschlag, aus allen Fenstern hängen weiße Fahnen, es ist totenstill. Die Amerikaner holten zunächst einmal das Hakenkreuz, das über dem Kino "Reichskrone" angebracht war, herunter, und einige Offiziere quartierten sich dann in der Villa der Familie Bychelberg ein, so dass wir ein Stück die Straße runter in ein Haus ziehen mussten, in dem eine Schreinerei oder Druckerei war.
Die Amerikaner hatten alles. Sie hatten sogar einen chinesischen Koch und buken kleine Pfannkuchen, Pancakes, zu denen sie auch manchmal uns Kinder einluden. Unsere Mutter war froh darüber, so waren wir einmal satt geworden, denn Essen war knapp. Die Amerikaner hatten allerdings Essen in Hülle und Fülle und machten sich teilweise einen Jux daraus, die noch halbvollen Konservendosen in die Abfallgrube hinter dem Haus weg zuwerfen und dann vor den Augen anderer anzuzünden.
Viele der verwundet zurückkommenden deutschen Soldaten hatten ihre Verletzungen notdürftig mit Krepppapier verarztet. Die Amerikaner waren entgeistert und ließen sich zum Teil Autogramme auf diese "Verbände" geben, um sie zu Hause als Beweis vorlegen zu können.
Jan: Ich erinnere mich, das wir Kinder immer versucht haben, Essen zu "organisieren". Einmal habe ich eine Kiste mit Orangen gestohlen und bin dabei ertappt worden. Ein Offizier, den ich als Lehrer in Erinnerung habe, brachte mich an die Grenze des Grundstücks und gab mir die Kiste da wieder. Er hatte wohl erkannt, dass wir einfach nur Hunger hatten.
Unsere Schwester Irmgard war zu der Zeit schon ein Teenager und ein wirklich hübsches Mädchen. In der Grochlitzerstraße saßen Soldaten auf Posten an einer Art Feldtelefon, natürlich mit einem langen Kabel, und wenn sie auf der Straße vorbeiging nahm der Soldat das Kabel und machte damit eine Art Wellenbewegung, die sich in ihre Richtung fortpflanzte.
Irgendwann kam auch unser älterer Bruder Herrmann nach Naumburg. Er hatte sich mit dem Fahrrad vom Ruhrgebiet aus durchgeschlagen! Einmal weckte er mich nachts, weil er beobachtet hatte, wie ein amerikanischer Soldat auf der Straße eine nur angerauchte Zigarette achtlos weggeworfen hatte. Ich musste aufstehen und ihm das Reststück holen.
Es gab ein Lebensmittellager in Naumburg, das irgendwann geplündert wurde. Die Leute rollten die kleinen Butterfässchen die Straße herunter, bis sich bei einem der Metallring löste und das Fass platzte. Nie vergessen werden wir die ältere, wirklich gut gekleidete Dame in schwarzem Kostüm und Hut, die ihre Handtasche aufmachte und die Butter aus dem Fass mit der Hand in ihre Tasche schmierte! Dann wurde geschossen und wir machten uns davon.
[Russen in Naumburg]
Nach der Potsdamer Konferenz mussten die Amerikaner Naumburg verlassen und die Russen kamen. So gut die Amerikaner ausgestattet gewesen waren, so schlecht waren es die Russen. Sie hatten teilweise noch weniger zu essen als die Zivilbevölkerung. Als die Russen das erste Mal in der Villa vorstellig wurden, stellte sich unsere Mutter wie eine Löwin vor ihre Kinder. Sie hatte ein Photo der niederländischen Königsfamilie in der Hand und ein kleines Orange-Band, denn wir waren Holländer und Mutters ständige Aussage war: "Wir sind keine Deutschen." Frau von Bychelberg hatte Russen wohl grundsätzlich für Bauern und Analphabeten gehalten, der Offizier jedoch küsste ihr formvollendet die Hand und sprach französisch mit ihr, womit sie im Leben nicht gerechnet hatte. Wir haben die Russen als sehr kinderlieb in Erinnerung; sicher hatten sie auch Kinder zu Hause, die sie vermissten. Unsere Schwester Irmgard wurde von Mutter jedoch immer versteckt.
Wir Kinder bekamen einmal heraus, dass wohl "zappzarapp" ein russischer, umgangssprachlicher Ausdruck für "stehlen" ist. Als wir einmal im Scherz zu einem Soldaten sagten, er habe wohl "zappzarapp" gemacht, wurde er furchtbar wütend und schrie "Nix zappzarapp".
Einmal fuhr ein russischer Soldat auf einem Motorrad die Straße an mir vorbei, dabei verlor er seine Mütze. Ich, das zur Höflichkeit erzogene Kind, hob sie auf und reichte sie ihm. Er griff in seine Tasche und gab mir einen ganzen Bündel Geldscheine, das freilich völlig wertlos war.
Nach der Potsdamer Konferenz war auch klar, dass wir nach Hause konnten. Unsere Brüder Hans und Anton wurden aus dem Ruhrgebiet als Verstärkung zu uns geschickt, um uns auf der Rückreise beizustehen. Leider wissen wir den genauen Zeitpunkt nicht mehr, zu dem wir nach Hause zurückkehrten, es muss jedoch Ende 1945 gewesen sein. Am Bahnhof wäre es fast noch zu einem schlimmen Zwischenfall gekommen, denn als die ganze Familie schon im "Zug" saß, wurde unser Bruder Hans verhaftet und am Bahnhof in einen Art Keller gesperrt. Natürlich war unsere Mutter entsetzt, sie sah sich schon ohne ihr "Kind" fahren, aber Hans konnte durch ein kleines Kellerfenster fliehen und die Familie gemeinsam nach Hause fahren. Wir fuhren in einem offenen Kohlewagen und mussten zwischendurch erst noch in einem amerikanischen Lager entlaust werden.
Im Herbst 1993 habe ich mit meiner Tochter Kerstin noch einmal Naumburg besucht. Ich habe vieles wiedererkannt, das Haus, in dem früher das Kino "Krone" war, und sofort kam mir wieder in Erinnerung, wie die Amerikaner das Hakenkreuz abnahmen.
Wir machten auch ein Foto vor der Grochlitzer Straße Nummer 44, und es gab noch immer die kleine Brüstung, auf der die Amerikaner damals immer eine Kiste mit Zigarren stehen hatten, so dass jeder Soldat sich beim Verlassen des Hauses einfach eine nehmen konnte.