An einem schönen Oktobernachmittag des Kriegsjahres 1941 wollten meine Eltern gemeinsam ins Städtchen gehen, um einzukaufen. Aber es war schwierig, die breite Treppe, die zum Garten des Hauses Georgenberg 1 führt, zu passieren. Sie hatte sich unter Aufgabe ihrer eigentlichen Zweckbestimmung in ein improvisiertes Freilichttheater verwandelt. Hinter der Bühne – einem ererbten Kasperletheater – mühte ich mich, wie mein Vater schrieb, „im Schweiße seines kleinen, aber immer schmutzigen Angesichts“ dem Auditorium auf den Treppenstufen mit Kasperlpuppen ein selbst erdachtes Spiel vorzuführen. Ich war damals 5 Jahre alt. Entsprechend schlicht war die Darbietung, die zumeist auf die üblichen Prügelszenen zwischen guten und bösen Akteuren hinauslief, von lauten Rufen der jungen Zuschauer unterstützt.
Den amüsierten Eltern kam der Gedanke, wie reizvoll es doch sein müsse, den Kindern einmal ein richtiges Theaterstück vorzuspielen. Die Idee setzte sich fest und ließ in der Fantasie schon begeisterte rotbäckige Kinder Beifall spenden. Schließlich spitzte sich die Überlegung nur noch auf die Frage zu: Kasperltheater oder Puppenbühne. Wer das enorme bastlerische Geschick unseres Vaters kannte, hätte sofort gewusst, dass es ein richtiges kleines Puppentheater würde: mit einer Drehbühne, die den Aufbau von drei Szenen mit ihren handgemalten Kulissen gestattete; mit einer Rampenbeleuchtung, die eine Szenenbeleuchtung in rot, weiß, grün und blau – durch einen Drehwiderstand in der Helligkeit stufenlos regulierbar – ermöglichte, wenn man aufgeschnittene Konservendosen an den Enden drehte; und schließlich mit Puppen an Fäden oder dünnen Drähten - fast echte Marionetten. Die Puppen hatte unsere Mutter aus Stoff- und Wollresten mit geschickter Hand hergestellt und den Köpfen angepasst, die der Vater aus Gips geformt und bemalt hatte. In der Kriegszeit, in der Stoffe, Gips, Holz, Pappe, Nägel und Schrauben schwer heranzuschaffen waren, war das ganze Vorhaben schwierig genug, aber im Sommer 1942 konnte sich der kleine prunkvolle Samtvorhang, für den die letzten Punkte der Kleiderkarte geopfert wurden, vor gespanntem Publikum heben.
“Hänsel und Gretel” erlebten in einer vom Vater gedichteten Form ihre Uraufführung. Später folgten Rumpelstilzchen und Dornröschen. Und die Zahl der Zuschauer wuchs von mal zu mal. Bis zu 50 kleine und auch erwachsene Gäste drängelten sich im “Herrenzimmer” unserer Wohnung, während die “Spieler” (Vater, Mutter und der ältere Bruder Jochen) im angrenzenden “Damenzimmer” ihren Spielraum hatten. Gesamteindruck dort: malerische Unordnung.
Die Bühne befand sich im Rahmen der zweiflügeligen Tür zwischen beiden Zimmern, oben und unten mit Tüchern verhängt, so dass die Sprache in den Zuschaueraum dringen und man nur die Bühne, nicht aber die Spieler sehen konnte. Und das war, wie ich aus späterer eigener Erfahrung zu berichten weiß, nur gut. Trafen sich doch oft genug die verzweifelten Blicke der Spieler, wenn ein Einsatz nicht rechtzeitig klappte oder eine Puppe mehr und mehr in die Luft entschwebte, weil man auf den Text fixiert war. Aber auch ein beglücktes Zunicken konnte ungesehen erfolgen, wenn die “Aaahs” und “Ooohs” die Begeisterung der kleinen Zuschauer über ein neues Bühnenbild signalisierte.
Mir selbst kam damals die ungeheuer wichtige Ordnungsfunktion zu, selbst gefertigte Eintrittskarten vor der Haustür auszugeben und sie hernach vor der Wohnungstür zu entwerten, indem ich eine Ecke der Karte, die mit der Nähmaschine vorgelocht worden war, abriss. So fühlte ich mich als vollwertiges Mitglied einer echten kleinen “Familie Poppenspäler”.
Später schrieb der Vater eigene Märchen, in Versform wohlverstanden, die begeisterte Aufnahme fanden. Und es gab für unsere Eltern keinen schöneren Dank, als wenn die Kinder am nächsten Tag auf der Straße das selbst gedichtete Lied von den Schneemännern “Hoppel und Poppel” sangen. Das Puppentheater wurde während der amerikanischen Besatzungszeit, als das Haus für die Soldaten geräumt werden musste, teilweise zerstört. Dank der Aufzeichnungen und Beschreibungen unseres Vaters, der 1947 sein Leben in Buchenwald verlor, konnte ich es rekonstruieren und 1950/51 mit der Mutter und meinem Freund Udo Krüger mehrmals bespielen. Als es schließlich 1956 mit dem Umzug der Mutter nach Westdeutschland kam, erforderte eine Fressorgie der Holzwürmer eine zweite Rekonstruktion. Danach sind jedoch mehrfach die alten Stücke wieder auf- und ein hinterlassenes Märchen in Versform: “Die Lotusblume” uraufgeführt worden.