Am Tor zur Straße gab es 2 große Pfeiler. Darauf saßen wir, mein Freund Günter Böhme und ich und sahen im April 45 dem Einmarsch der Amerikaner zu. Das Brummen ihrer Lastwagen war schon weit zu hören und vor den Schwarzen darauf habe ich mich ein bisschen gefürchtet. Später im Sommer gab es da den Einzug der Roten Armee zu sehen mit ihren Panjewagen und ihren struppigen Pferdchen. Die Soldaten in ihren Filzmänteln, mit den runden Magazinen an ihren Gewehren. Da hatten wir schon keine Angst mehr.
In die Wohnung neben uns zogen russische Offiziere sozusagen in Untermiete ein (die eigentliche Mieterin, eine ältere Frau, blieb jedenfalls auch da wohnen). Die Russen sangen Lieder und feierten ständig. Sie waren sehr kinderlieb und gaben uns von ihren Schätzen ab. Das zog uns natürlich an. Ich zeigte ihnen meine Blechkanone und Günter brachte einen Taschenkalender mit deutschen Rangabzeichen. Die Russen sahen sich alles genau an und sagten zu uns: Du – Faschist. Dann war da noch ein Pjotr, offenbar ein Leutnant. Er besaß einen Schäferhund, ein Leichtmotorrad und ein Jagdgewehr. Er fuhr ins Buchholz und schoss einen Hasen und befestigte ihn auf dem Gepäckträger. Als er wieder auf dem Hof war, war der Hase weg. Er konnte sich gar nicht einkriegen vor Lachen. Leider wurden nach kurzer Zeit alle Russen kaserniert. Obwohl wir Kinder und wohl auch die Russen es bedauert haben. Damit war es aus mit den neuen Freunden.
Mein Vater war im Krieg vermisst, ein etwas unklarer Zustand mit immer noch leichter Hoffnung, und für meine Mutter, meine Schwester und mich brach eine schwere Zeit an.
Zum Glück hatte sie im Krankenhaus bei meiner und meiner Schwester Geburt als Zimmernachbarn Bauersfrauen gehabt und zu denen Kontakt gehalten. Das hat uns sehr geholfen. Der Familie Schnicke in Größnitz bin ich heute noch dankbar. Trotzdem hatte ich ständig Hunger und es war auch elend kalt.
Ich habe manchmal Kohlen geklaut, am Ostbahnhof, war aber zu ungeschickt dafür und bekam etwas Dresche von den russischen Soldaten. Durch das miserable Heizmaterial ist uns ein paar Mal der Kachelofen hochgegangen. Irgendwie wurde er aber immer wieder repariert.
1947 wurden wir, Günter und ich in die Salztorschule eingeschult. Dort hatten wir gute Lehrer und wir waren auch gute Schüler. Der 1. Lehrer Herr Meißner wollte uns gleich ein Jahr überspringen lassen. Wir wurden noch einmal besonders geprüft, oben im Umspannwerk, dort war er zuhause. Aber wir haben es dann doch nicht gemacht.
Auf unserem Hof war immer viel los. Bärbel, Peter, Helga, Gisela, Günter, Anita, Dieter, Christine, Barbara, Klaus und noch viele andere, deren Namen mir schon leider entfallen sind – es waren immer genügend draußen. Es wurde großflächig zum Ärger der Nachbarn Verstecken gespielt und Hallihallo. Größere Kinder beklebten eine kleine Anschlagtafel an Rölkes Zaun mit witzigen Geschichten. Wir haben auf dem Kirschberg und am Stadtgraben gerodelt und sind auf der Straße Schlittschuh gefahren. Das war damals noch möglich. Wir haben mit Karbidstückchen Wasserrohrbruch simuliert und bekamen welche hinter die Ohren. Wir lernten Fahrradfahren und vergrößerten unseren Radius. Wenn der Reifen kaputt war, half uns Herr Rudat. Er arbeitete in der Vulkanisieranstalt. Wenn die Hosen kaputt waren, half uns Günters Mutter Charlotte, eine Schneiderin. Sie wird in diesem Jahr übrigens in Naumburg ihren 100. Geburtstag begehen.
Im Sommer sind wir sehr gerne an die Saale zum Baden gegangen. Manchmal auch in Kaisers Badeanstalt. Aber das kostete ja Geld. Also badeten wir gegenüber und da wäre ich auch einmal beinahe ertrunken. Weil aber immer der halbe Hof zum Baden ging, wurde ich herausgezogen. Es muss dieselbe Stelle gewesen sein, die auch Peter Dünkel erwähnt. Schwimmen bei Kaiser zu lernen, war außerhalb unserer Möglichkeiten und völlig undenkbar.
Da kam der berühmte glückliche Zufall: In dem HO-Kaufhaus am Markt wurden plötzlich Schwimmwesten verkauft, aus alten Heeresbeständen, zu M 2,50 das Stück. Das war meine Chance. Ich begab mich in die Lepsiusstraße, wo meine Mutter in der Arzneimittelfirma arbeitete und wartete geduldig auf ihr Erscheinen. Unterwegs übte ich die Worte ein, mit denen ich meiner Mutter dieses Geld abzuringen erhoffte. Sie verdiente 80 Pfennige in der Stunde und das war bitter wenig. Aber es gelang mir. Und nun gingen wir zur Brücke an der „Henne“ und schwammen, mit dieser Schwimmweste gesichert, bis zur Bucht am Ruderklub. Nach zwei Sommern konnte ich sie weiterverkaufen. Ich hatte das Schwimmen auch so erlernt.
In der Schule traten wir den Jungen Pionieren bei. Viel änderte sich nicht dadurch. Nur, dass die Nachbarn die Uniform belächelten, fiel mir auf. In der 5. Klasse wurde Herr Menzel unser Klassenlehrer. Ich verdanke ihm viel. Russisch wurde Unterrichtsfach bei Frau Wolter. Leider war der vermittelte Stoff dermaßen unpraktisch, dass kein Kontakt zu Russen zustande kam. Aber der war wohl auch nicht erwünscht. Auf unserem Hof versuchten Paul Reißweck und sein Sohn Ricardo eine Art Hof-Pioniergruppe aufzuziehen. Das war ganz lustig. Jedoch wurde dem Treiben von unbekannter, höherer Stelle schnell ein Ende gemacht. Es kam der 17. Juni 1953. Man hörte ein paar Gerüchte über Ereignisse im Gefängnis. Für die Kinder auf dem Hof aber hatte der 17. Juni etwas viel interessanteres: eine Gruppe VOPO sollte das Gaswerk vor Sabotage schützen. Und diese Leute saßen um ein Lagerfeuer, hatten einen Gitarrespieler dabei, der auch die neuesten Schlager dazu sang und sie hatten gar nichts dagegen, dass die Kinder von Nummer 21 dazu kamen.
In der 8. Klasse versuchte Gerhard Menzel mich zum Besuch der Oberschule zu überreden. Er riet mir für den Lebenslauf zu vergessen, dass mein Vater einmal Offizier war. Statt dessen sollte ich die Betonung darauf legen, dass meine Mutter Arbeiterin sei, was ja auch stimmte. Ich dagegen wies ihn darauf hin, dass wir leider immer noch bettelarm seien. Und dass es auf der Oberschule eventuell sogar Schulgeld kosten würde. Nein, ich wollte das nicht.
Es war jedoch sehr dumm von mir. Irgendwie wäre es wohl gegangen. Da genau hätte ich einen ratgebenden Vater dringend gebraucht.
Im Sommer 1955 verließ ich also die 4. Grundschule mit einem guten Abschluss und begann eine Elektrolehre bei der Firma Fritz Simon, auch auf unserem Hof. Ein guter Lehrling war ich nicht. Mit 15 war ich noch viel zu jung. Auf der Schule wäre ich besser aufgehoben gewesen. Aber ich habe dort auch viel gelernt. Einen lebenslangen Respekt vor guter Arbeit zum Beispiel. Und schließlich habe ich dann doch mein ganzes Arbeitsleben im Elektrofach zugebracht, nämlich als Röntgentechniker bei Philips.
1955 erhielten wir eine etwas bessere Wohnung. Wir verließen unseren Hof und zogen auf den Moritzberg und wohnten dort noch ein Jahr. Denn 1956 stellten wir einen Ausreiseantrag, weil meine Mutter in Westdeutschland heiraten wollte. Der wurde ziemlich schnell genehmigt. Im September 1956 kehrten wir Naumburg den Rücken.
Im Mai 1989, also nach 33 Jahren Abwesenheit, besuchte ich zusammen mit Günter Böhme von Berlin aus wieder unseren Hof. Je näher wir Naumburg kamen, umso gespannter wurde ich. Schließlich hatte sich in den langen Jahren der Abwesenheit die Erinnerung an unseren Hof verklärt. Wir stellten das Auto ab und gingen herum.
Ich war von allem, was ich wiedersah, sehr enttäuscht. Alles war viel kleiner und ärmlicher als in meiner Erinnerung. Wir stiegen auf den Wenzelsturm. Von oben sahen wir die verfallenen Häuser hinter dem Cafe Furcht. Und ich sagte mir: „Das vergiss mal lieber. Und nach Naumburg wirst du wohl nie mehr fahren.“
Im November brach die DDR zusammen. Es kam die Einheit. Und es begann langsam aufwärts zu gehen mit Naumburg. Und nun bin ich doch ab und zu mal wieder nach Naumburg gefahren.
Nur das mit unserem Hof - das ist, wie unsere Jugend, unwiederbringlich vergangen.