An dem durchgeschobenen Bindfaden hing der kleine Schwamm und ein Läppchen. Das war das Praktische, hatte man später unsauber oder fehlerhaft geschrieben, konnte man es wegwischen und besser wiederholen. Und billig war es dann auch. Der lange Faden mit Schwamm und Läppchen baumelte zunächst außerhalb des Ranzens hin und her. Also ein Wahrzeichen eines Schulanfängers. Unser Schulbeginn war in der 9. Klasse, und wer das Ziel erreichte, wurde in der 1. Klasse mit dem Zeugnis der mittleren Reife entlassen.
So war es in der Mittelschule, die einige Jahre vorher noch „gehobene Bürger- und Mittelschule” hieß. Der Weg vom Ende des Linsenberges bis zur Schulstraße war schon weit. Noch weiter hatten es Schülerinnen aus den Almricher Weinbergen. Bei Wind und Wetter, und damals noch Wintern mit viel Kälte und Schnee. Aber so war das, und so wurde es hingenommen. Es gab noch keine gemischten Klassen. Das Backsteingebäude Schulstraße war den Mädchen, das anschließende den Jungen vorbehalten. Es gab die Hilfsschule, Volksschule, Mittelschule, Lyzeum, Realgymnasium, Domgymnasium, Staatliche Bildungsanstalt (ehem. Kadette) und Privatschule. Ab Mittelschule mußte Schulgeld gezahlt werden. Zehn Mark klingt wenig, aber der Monat war schnell um, und für viele Eltern war es schon ein Opfer bei geringem Verdienst. 35 Schülerinnen waren wir im ersten Schuljahr. Doch das änderte sich bald.
Durch Verzug, Sitzenbleiben, Übergang zur Volksschule oder zum Gymnasium wurde die Klassenstärke reduziert. Es gab noch keine Grundschule, und die Eltern konnten gleich zu Beginn eine Schule wählen. Ab 3. Klasse wurden dann die Klassen a und b zusammengelegt. Unsere Fächer liefen damals noch unter den deutschen Bezeichnungen wie Lesen, Geschichte, Rechtschreibung, Gedankenausdruck, Rechnen, Erdkunde, Naturlehre.
Gelehrt wurde uns in der 9. Klasse die deutsche Schrift, und viel später erlernten wir dazu die lateinische. Dass die deutsche Schrift so ganz unter den Tisch gefallen ist, ist sehr schade. Wer kann heute schon den Brief einer Urgroßmutter lesen, wenn er deutsch geschrieben ist. Englisch gehörte mit zum Pflicht-Unterrichtsfach. Zwischen französisch, Hauswirtschaftslehre und Kochen konnte man wählen. Französisch hatten wir, wegen geringer Beteiligung, mit den Knaben gemeinsam. Das war für uns Zwölfjährige zweimal wöchentlich natürlich das große Ereignis.
Was uns Mädchen nicht vergönnt war - die Jungen trugen Schülermützen. Schicke Tuchmützen mit schwarzem Lackschild. Jede Schule hatte ihre eigene Farbe. Im Stadtbild sah man sofort, wer zu welcher Schule gehörte. Die Mützen wurden auch außerhalb der Schule getragen. Mittelschule hatte grüne Mützen mit dem seitlichen Klassenband. Besonders gehörten die Mützen während des Kirschfestumzuges dazu, woran noch Schüler aller Schulen bis zur obersten Klasse teilnahmen. Das war ein buntes Treiben. Auch wir hatten unsere Lieblingslehrer. Ich will nur einen mit Namen nennen. Gewiss ist er alten Naumburgern bekannt, Papa Elkner nannten wir ihn. Unseren Lehrer in Naturkunde. Er lehrte uns, die Natur mit offenen Augen und Herzen zu erfassen. Es wurde ein Heft angelegt mit dem Leitwort für jeden Tag: „Was uns heute auffiel”. Es fand sich immer etwas. Oft wurde dieser Unterricht in die Natur verlegt. Turnen fiel in die Vormittagsstunden.
Mein vier Jahre älterer Bruder gehörte zu den Genießern. Ich nur zwei Tage in seiner Vertretung, um die Marken nicht verfallen zu lassen. Noch heute ist es mir in Gedanken an damals peinlich, weil ich mein Dabeisein genau erklären mußte, da man mir keine Bedürftigkeit ansah. Auch zur Kinderlandverschickung, vier Wochen in die Schweiz, konnte mein Bruder mit dabei sein. Für die Eltern war alles kostenlos.
Sport und Spiel
Zum Sport zweimal nachmittags gingen wir in die Lehmgrube. Dort konnten wir uns beim Völkerball so richtig austoben. Im Winter war unsere Rodelbahn „die große Kadette”. Vom Flemminger Weg bis zur Kösener Straße ging die Fahrt, und kein Auto störte uns. Es gab noch wenig Autobesitzer. Durch die Kleine Saale wurden die Pfortenwiesen überflutet, und es gab keine bessere Schlittschuhbahn.
Das erste Schuljahr war auch das erste Nachkriegsjahr. Ich kann mich nicht mehr an den häuslichen, bestimmt meist dürftigen Speiseplan erinnern. Bei vielen Kindern machte sich das bemerkbar. So gab es für Schüler, die es durch schnelles Wachstum, überstandene Krankheit usw. besonders nötig hatten, in der Schule während der Mittagspause Quäker-Speise. Die Quäker waren eine in England entstandene religiöse Gemeinschaft, die sich in Amerika auch schnell ausbreitete und wohltätig wirkte. Von dort kam dann die Spende. Es gab einen großen Becher Milchkakao und ein großes Brötchen.
Einmal monatlich war Wandertag in heimatlicher Umgebung. Im Vierteljahr ein großer Wandertag. Unser sehnlichster Wunsch, in einer Jugendherberge zu übernachten, wie es in den Jungenklassen üblich war, wurde nie erfüllt. Unsere Ziele waren Eisenach, Weimar, Jena, Leipzig. Lehrerinnen waren damals meist unverheiratet. Unsere Lehrerin, für uns eine „alte” Dame, glaubte vielleicht, mit uns jungem Volk, das gern mal über die Stränge schlug, nicht klar zu kommen. So sehe ich es heute, wenn ich unser Verhältnis überdenke.
Bei jeder Wanderung wurde der Rucksack mit Tagesproviant mitgenommen. So brauchten nur Getränke bezahlt zu werden. Geld war damals schon knapp. Die Schulentlassung fiel in die Zeit, wo Nachkriegsbelastung, der Putsch in Naumburg und Inflation vorüber waren. Aber es war etwas anderes da, was die Menschen bedrückte, die große Arbeitslosigkeit für viele Jahre. Ja - auch die kannte man damals schon.
Waren wir Musterschüler? Nein, gewiss nicht, aber doch einige, aber dazu gehörte ich nicht. Auch wir versuchten, einige Lehrer mal „auf die Palme" zu bringen. Aber ich glaube, es ist uns gar nicht gelungen. Meist waren es Dinge, die keinem Lehrer durch Erfahrung unbekannt waren, und im Vergleich waren sie harmloser Art. Schläge - nein, die hat es während der ganzen Schulzeit nicht gegeben. Wie ich oft vom Erzählen hörte, war das in der vorherigen Generation doch noch üblich. Schläge sind ja immer ein Zeichen von Ohnmacht.