öfter, dass ich voller Angst über den Lindenring, durch die Salzstraße lief. Aber es ging immer gut. Einmal gab es “Gasalarm”, den sich erst keiner erklären konnte, später sickerte durch, dass am Güterbahnhof etwas los war mit einem Waggon, aber Näheres haben wir nicht erfahren. Die Sparkasse musste nachts, sonn- und feiertags ebenfalls besetzt sein. Und so wurden die Angestellten eingeteilt, jeweils zu zweit “Wache” zu halten. Nachmittags gab es frei, gegen Abend dann rückten wir ein. Die meisten brachten ein Kopfkissen mit, denn die Pritschen im Aufenthaltsraum waren hart. Unsere Aufgabe war als erstes das ganze Gebäude zu kontrollieren, dass alle Türen und Fenster verschlossen und vor allem verdunkelt waren. Im Hause befand sich damals auch das Bauamt, auch das wurde kontrolliert. Da außerdem Strom gespart werden musste, war es eine ziemlich düstere Sache. Wir trugen das alles erstaunlich humorvoll und machten das Beste daraus. Ab und zu leistete uns die Hausmeisterin Gesellschaft, deren Mann eingezogen war. Traurig war es, wenn es die besinnlichen Tage (Weihnachten, Silvester oder andere Feiertage) waren, die man in der Sparkasse als Wache verbringen musste. Oder im Sommer, wenn die Leute sonntags vorbei bummelten. Dann gab es auch schon mal einen Plausch aus dem Fenster mit den Spaziergängern. Meistens haben wir es so eingerichtet dass wir Jugendliche uns gemeinsam aufstellen ließen. Die männlichen Mitarbeiter waren fast alle zum Militär eingezogen, so bestand die Belegschaft fast nur aus Frauen. Wir verstanden uns alle gut, trugen den Ernst der Zeit gemeinsam mit viel Verständnis für den Nächsten Es waren auch einige Ehefrauen der eingezogenen Männer beschäftigt.
Doch etwas Besonderes waren wir Lehrlinge. Wir trafen uns auch ab und zu in der Freizeit (allerdings nur sonntags, denn gearbeitet wurde damals auch samstags) zum Wandern oder auch zum Feiern. Und wir hatten trotz aller äußeren Umstände Freude am Leben. Diese Freundschaften haben sich im Laufe der Zeit vertieft. Einer nahm Anteil am Schicksal des Anderen, auch als die Wege sich trennten durch Heirat, Wegzug usw. Und so treffen wir uns bis zum heutigen Zeitpunkt jedes Jahr einmal in unserer Heimatstadt Naumburg, wandern zu einem schönen Ziel, tauschen unterweg und anschließend bei Kaffee und Kuchen Neuigkeiten aus und verabschieden uns in der Hoffnung, es möge im nächsten Jahr ein gesundes Wiedersehen geben. So sind wir inzwischen ca. 60 Jahre der Sparkasse treu geblieben.
Und nun zurück zum Apri 1945, genau zum 09. April. Nachmittags gab es Fliegeralarm. Die Konten waren im Tresor und die Belegschaft im Luftschutzkeller. Das war uns ja schon bekannt. Aber was dann kam, wird keiner von uns vergessen können: eine Luftmine traf die Sparkasse voll. Meine Erinnerung ist, dass ich am weitesten weg von der Luftschutztür sass und plötzlich standen wir alle dichtgedrängt an der Tür. Die Druckwelle hatte uns dahin geschleudert. Alles war voll Staub. Unser Luftschutzwart, Herr Walter Lösche, ordnete an, Tücher in dem Wassereimer anzufeuchten und vor Mund und Nase zu halten. Sein Trost an uns: sie holen un hier raus! Fast alle waren gefasst, es war wohl auch der Schock, der uns ruhig bleiben ließ. Und dann kam Hilfe. Die Feuerwehr führte uns einzeln über die Trümmer fast nach oben, als das Kommando kam: zurück, Tiefflieger. Also ging es den beschwerlich Weg zurück. Mein einziger Mantel ging dabei fast zum Teufel. Nach einer nicht einschätzbaren Zeit gab es den zweiten Versuch heraus zu kommen, denn es bestand für das Gebäude akute Einsturzgefahr. Diesmal gelang es den starken Männern der Feuerwehr uns heraus zu ziehen. Die Anweisung von ihnen hieß: raus aus der Stadt. So liefen wir zum Bürgergarten hoch, versteckten uns hinter einem Busch (den wir bei unseren Wanderungen immer wieder erkennen) und harrten der Dinge. Als der Spuk vorbei schien, wagten wir uns langsam zurück. Zuerst steuerten wir die Gaststätte “Zum Bürger garten” an. Als der Wirt uns sah, fragte er voll Entsetzen: Wie seht Ihr denn aus?" Die hatten da oben überhaupt nichts gemerkt von dem, was in der Innenstadt geschehen war. Nachdem wir uns in der Gaststätte ein bisschen gesäubert hatten, ging es langsam durch die Bürgergartenstraße zum Salztor. An jeder Straßenbiegung schauten wir, ob die Häuser noch standen. Wir trösteten uns mit dem Wunsch: Hauptsache unseren Angehörigen ist nichts Schlimmes zugestoßen. Und plötzlich kamen am Lindenring meine Eltern angerannt. Meine Mutter stand kurz vor dem Zusammenbruch. Wir waren alle überglücklich, dass wir uns gesund wiederhatten. Sie hatten von dem Angriff auf die Sparkasse durch einen Nachbarn erfahren, der im Hotel “Schwarzes Roß” arbeitete und nach dem Angriff in unseren Luftschutzkeller gerannt war. Er schilderte das Chaos der Sparkasse ohne daran zu denken, dass ich dort arbeitete und meine Eltern und meine Schwester in dem Keller waren. Mein Vater war zum Volkssturm eingezogen und musste sich am 10. April, also am nächsten Tag, melden. Meine Eltern rannten sofort los, um zur Sparkasse zu kommen. An der Salzstraße wurden sie aufgehalten, es war alles abgesperrt. Mein Vater durfte durch, weil er die Unifo vom Volkssturm trug. Mit Mühe konnte er sich über die Trümmer der ebenfalls zum Teil zerbombten Salzstraße hinweg zur Sparkasse durchkämpfen. An der Sparkasse waren keine Menschen zu sehen. Endlich konnte ihm dann ein Feuerwehrmann sagen, dass die Sparkassenleute gerettet worden waren. Das war eine gute Nachricht für ihn, aber doch noch keine hundertprozentige Beruhigung. Erst als wir uns dann gegen 1/2 8 Uhr in den Armen hielten, waren wir glücklich. Und mein Vater rückte am 10. April ein, um in Bad Sulza am nächsten Tag in amerikanische Kriegsgefangenschaft zu geraten, aus der er nach einem Lageraufenthalt in dem berüchtigten Lager Bad Kreuznach und späteren Gefangenlagern in Frankreich nach l 1/2 Jahren heimkehren konnte.
In der Sparkasse ging nach dem 09. April das Aufräumen los trotz Einsturzgefahr und weiteren Bombenalarmen. Am 11. April 1945 rückten die Amerikaner in Naumburg ein. Und wir gingen wieder zu unserem Arbeitsplatz um aufzuräumen. Draußen fuhren die Panzer vorbei und die GIs machten sich einen Spaß, ihre Knarre durch die kaputten Fenster auf uns zu richten mit dem bekannten breiten Grinsen. Wir sind vor Angst bald gestorben. Es gelang, vieles an Belegen und Unterlagen zu retten bis zum Tag der Bankenschließung. Der Betrieb wurde weitergführt in den Räumen des teils ebenfalls zerstörten Halleschen Bankvereins am Topfmarkt, der Commerzbank am Lindenring und im Laden des Haus der Damenhüte Ecke Lindenring/Herrenstraße.
Als wollte die Natur etwas ausgleichen, gab es 1945 einen herrlichen Frühling. Die Uhren waren damals zwei Stunden vorgestellt. Da unser Dienst um 7.00 Uhr morgens begann, war es nach der Sonne erst 5.00 Uhr morgens. Wir hatten uns auch an alles das gewöhnt und waren glücklich, dass endlich Frieden war. Da kam die nächste Veränderung: die Amerikaner verließen Mitteldeutschland und die Russen kamen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Ich wollte ja nur von der Zeit in der Sparkasse und der Zerstörung unseres geliebten Arbeitsplatzes berichten. Der Wiederaufbau und die Einweihung wurden mit einem schönen Fest begangen.