jedes Gemüt, als der Tag graut. Auf dem Marktplatz strömen Frauen, Männer und Kinder zusammen. Die Schrecken der letzten Tage und Nächte haben ihre Schrift geschrieben, die Furchen in den bleichen Gesichtern, die flackernden Augen. Das zerrissene Dach der Wenzelskirche schaut auf den glücklicherweise unbeschädigten Markt herunter. Die stattlichen Patrizierhäuser und das breite, schöne Rathaus haben nicht die Zerstörung erfahren, wie die vielen Wohn- und Geschäftshäuser zwischen Salz-und Neustraße, in der Marienstraße und in der Gartenstraße. Ich stehe sorgenvoll an der Einmündung der Marienstraße in den Markt und grüble über die vergangenen und die kommenden Ereignisse nach, die Augen auf das Rathaus gerichtet. Kinder lärmen, Erwachsene diskutieren. Es ist 9 Uhr.

Ein Schrei vieler Stimmen, es klingt wie befreit: "Da sind sie!" Was war geschehen? Ein kleines Auto, ein DKW, war aus der Herrenstraße kommend, im Torbogen des Rathauses verschwunden. Spähend und abwartend stand ich wie angewurzelt. Was hatte das zu bedeuten? Aus der Rathaustür kam plötzlich eine einzelne Person ohne Hut und Mantel, eine gedrungene Männergestalt. Sie ging ganz allein sinnend auf und ab. Was mochte dem Manne durch den Kopf gehen? Ich kannte ihn nicht. Ich hatte nie Gelegenheit gehabt, ihn seit seinem Amtsantritt kennen zu lernen. Einige Umstehende wollten genau wissen, dass es nicht der Oberbürgermeister sei. Immerhin war mir der so vereinsamte Mann in dieser Situation als Oberbürgermeister auch nicht erklärlich, da eine so hochgestellte Persönlichkeit meistens von vielen umgeben ist, besonders in dieser Lage wäre das anzunehmen gewesen. Aber ich sah den sichtlich mit sich selbst kämpfenden Mann, und ich ahnte nicht, dass der sonderbare Eindruck dieser Einsamkeit mich antreiben würde, mit dem Herrn in Verbindung zu treten, um vielleicht das Schicksal der lieben Stadt Naumburg mit bestimmen zu helfen. Der Mann ging vorn übergebeugt quer über den Markt in die Jakobsstraße und entschwand meinen Blicken. Ich wurde von einer inneren Stimme getrieben, dahin zu eilen, wo der Mann sein würde. Ich ging nach Hause und entledigte mich meiner mitgeführten Sachen und sagte meiner Frau: "Ich gehe gleich wieder, ich muss sehen, wo der Mann geblieben ist, den ich als Oberbürgermeister vermute." Sie wollte mich nicht mehr fortlassen, aber ich ließ mich nicht halten und eilte in die Jakobsstraße und dem Jakobsring zu.

Als hätte mich eine Hand geführt, stand ich auch bald auf dem Theaterplatz dem Manne gegenüber und stieß die Frage heraus: "Was soll nun werden, Herr Oberbürgermeister?" "Die Stadt wird verteidigt!" erwiderte er. Mir war es, als bekäme ich einen Schlag vor den Kopf. Meine Augen wurden feucht, und nach einigen Augenblicken der Fassungslosigkeit hatte ich mich gefestigt und stellte die Gegenfrage: "Wo ist die Verteidigung? Von wem soll die Stadt verteidigt werden? Der Amerikaner muss gleich kommen!" "Dort um die Ecke steht die Verteidigung, ein Feldwebel, ein Unteroffizier und sechs Mann", war die Antwort. Ich war so bestürzt, dass ich fast schrie: "Um Himmels willen, Herr Oberbürgermeister! Was hat man mit uns vor? Was soll das heißen?" Er antwortete: "Der Befehl ist gegeben, die Stadt zu verteidigen, der Befehl wird ausgeführt, und wenn die 50 000 Einwohner der Stadt zugrunde gehen!" Auf meine Frage, wer den Befehl erteilt hätte, erhielt ich zur Antwort: "Den Befehl gab der Stadtkommandant Oberst Scholz zusammen mit General Scotti. Beide sitzen in einem bombensicheren Unterstand in der Erholung. Rücksicht kann auf die Einwohner der Stadt nunmehr nicht mehr genommen werden." Von ungeheurer Sorge getrieben, ging ich - dorthin, wo nach Angaben des "Oberbürgermeisters" die Verteidigung sein musste. Ich traf den Führer dieser Streitmacht mit einem Karabiner und den Unteroffizier mit der geladenen Panzerfaust am Straßenrand und die sechs Mann im danebenliegenden Hof. Ich sagte zu dem Feldwebel: "Es ist umsonst, das Opfer ihres und ihrer Kameraden Leben, dazu das der Stadt mit 50.000 Menschen. Eine Verteidigung durch euch acht Mann ist eine Herausforderung. Sichert die Waffen! Es ist vorbei!"Da sah er mich mitleidsvoll an und antwortete: "Wir haben Befehl, den Panzer anzugreifen!" Ich sah ihn in die Augen, drehte mich um und ging zum Oberbürgermeister zurück. "Nun, was sagt die Verteidigung?" fragte der Oberbürgermeister." Meine Antwort: "Es ist schamlos, was man hier treibt! Um einen Panzer zu vernichten, will man 50 000 Menschen opfern! Er hat Befehl, den Panzer anzugreifen, der bald kommen soll."

Die Lage war ernst, furchtbar. Bankdirektor Randebrok, der im Vorbeigehen fragte, was nun werden würde, erhielt die Antwort: "Die Stadt wird verteidigt!" Er glaubte an einen Scherz, doch der Oberbürgermeister bestätigte ihm, was er soeben gehört hatte. Nachdem Randebrok sich zurückgezogen hatte, kam W. B. mit Begleitung vorbei. Er fragte: "Was machst du denn hier, du bist ja so aufgeregt?" Ich erzählte ihm alles, was der Bürgermeister dann bestätigte. W. B. war empört und forderte mich auf, die Verteidiger zu verhaften. Ich sagte: "Das ist ein großes Wagnis und kann den Tod durch den eigenen Landsmann bedeuten." Er ging. Nach einigen Minuten kam er mit ernster Mine zurück und sagte: "Wenn das geschieht, sind wir alle verloren. Ich habe mit dem Feldwebel gesprochen, er ist stur und hat Befehl!" Damit verließ uns W. B. Wieder standen der OB und ich allein. Da kam plötzlich aus der Grochlitzer Straße des Oberbürgermeisters DKW und wollte vorüber. "Da ist ja mein Wagen!" schrie der OB und hielt ihn an. Die Insassen waren der Feldwebel und der Unteroffizier. Während ich mich noch darüber wunderte, flitzte ein amerikanischer Schnellwagen heran, die Maschinengewehre auf uns gerichtet. "Hands up" wurde geschrien. Wir streckten alle die Arme in die Luft.