meine jüngeren Schwestern Charlotte und Ursula. [Bild] Naumburg ist aber auch der Ursprung - als meine Eltern sich kennen lernten - und der Zufluchtsort unserer Familie gewesen, als wir 1943 in Aachen “ausgebombt” wurden und als “Bombenflüchtlinge” eine Unterkunft suchten.
Und Naumburg hat uns aufgenommen, weil mein Großvater Robert Tromm als Zollrat das Hauptzollamt am Markt geleitet und meine Großmutter Anna Fürstenhaupt einen Weinberg in der Roßbacher Flur geerbt hatte. Dort, um das Hauptzollamt herum, haben sich meine Eltern kennen gelernt. Mein Vater war 1920 aus Prüm in der Eifel vor den Franzosen geflohen und konnte in Naumburg seine Ausbildung zum Zollbeamten fortsetzen. Hier lernte er meine Mutter, die ausgebildete Krankenschwester und Tochter seines Chefs kennen. 1929 haben die beiden geheiratet, die kirchliche Trauung fand in der Wenzelskirche statt, und hier wurde auch Ursula, ihr 4. Kind getauft, das 1939 in der Klinik von Dr. Schiele geboren worden war.Meine Erinnerung an die l. Naumburger Zeit von 1937-1939 ist nur noch schwach, aber für mich eindrucksvoll: Ich sehe wie wir im Weinberg in Roßbach an der Kaffeetafel sitzen und mein Vater in der Sägelaube Holz hackt. Ich sehe, wie meine Großeltern auf ihrem Alterssitz in der Salzstraße mit uns Kindern “Mensch ärgere dich nicht” gespielt haben, und mein Opa sich doch so geärgert hat, dass er alle Püppchen vom Tisch fegte. Hier habe ich schwimmen und Fahrrad fahren gelernt. In der Georgenschule bin ich 1939 in die Schule gekommen, mit Schiefertafel, Griffelkasten und Schwamm, und hier haben wir unseren ersten Probealarm geübt: Alle Kinder mußten in den Keller und auf langen Bänken sitzen. Die schweren Panzertüren wurden geschlossen. Wassereimer, Sandkisten und Feuerpatschen wurden uns vorgestellt. Nach der Übung gab es Kakao oder Milch aus kleinen Flaschen mit Strohhalmen zu trinken.
Diese “Luftschutzübung” war “eine gute Schule”, denn 1940 wurde mein Vater an die Grenze nach Aachen versetzt, wo wir auch bei Fliegeralarm in den Keller oder in den nahen Bunker gehen mußten. 1943 wurde unser Haus in Aachen durch Spreng- und Brandbomben vollständig zerstört,- aber der Fliegerangriff fand in den Ferien statt, als wir gerade in Naumburg Ferien machten. Hier, in der sommerlichen Idylle hatte uns auch die Nachricht getroffen, dass der Bruder meiner Mutter, unser Onkel Heinz, Oberst und Ritterkreuzträger “im Osten gefallen” ist, und im selben Jahr wurde unsere Oma zu Grabe getragen. Meine Großeltern liegen auf dem neuen Friedhof an der Weißenfelser Straße begraben.
Bei Kriegsende wohnten wir an der Wenzelsmauer.[Bild] Hierhin kam unser Vater auf Genesungsurlaub, nachdem er in Polen bei der “Partisanenjagd” verwundet worden war, und hier erlebten wir den Fliegerangriff auf Naumburg, der den alten Friedhof am Postring mit den Gräbern unserer Ahnen mütterlicherseits, das Heereszeugamt und die Häuser in der Wenzelsgasse durch Bomben zerstörte. Wir sassen alle zusammen im Luftschutzkeller, die Bomben krachten, der Keller bebte, Staub wirbelte durch den Raum und dann fingen alle Leute an zu schreien. Meine Mutter verließ den Raum, stellte fest, dass unser Haus noch stand, aber die Wenzelsgasse zerstört und Menschen dort verschüttet worden waren. Sie hatte mit anderen im Schutt gewühlt und die im Keller Verschütteten gerettet. Ich sollte Kaffee zur ersten Stärkung holen, aber als ich ihn brachte, wurde er mir von einer gerade Geretteten aus der Hand geschlagen, sie stand wohl unter Schock.
Im obersten Stockwerk des Hauses Wenzelsmauer 9 hatten wir einen “Logenplatz”, von dem aus wir alle Verkehrsbewegungen auf dem Wenzelsring von Ost nach West oder von West nach Ost beobachten konnten.
Zuerst kamen die Trecks der Ostflüchtlinge. Planwagen, beladen mit vollen Säcken, Kisten und Hausrat, angebunden lief oft ein Fohlen oder eine Kuh nebenher. Dann kamen aus dem Westen aufgelöste Heeresverbände mit angeschlagenen Wagen und Waffen. Auf den Kotflügeln der PKW's sassen Soldaten, die den Himmel beobachten und vor Tieffliegern warnen sollten.
Eines Abends, es war schon spät und fast dunkel, hörten wir ein Getrappel und Geschlurfe auf den Steinen vor unserem Fenster wie von einer Schafsherde,- es waren aber Menschen in gestreifter KZ-Kleidung und Holzschuhen, die von SS-Soldaten vorangetrieben wurden. Gefangene aus Buchenwald auf ihrem Todesmarsch. Dann war es eine Weile still auf dem Wenzelsring, bis im Westen ferner Kanonendonner zu hören war. Und dann kamen die Amerikaner auf ihren Jeeps, die auf dem Wenzelsring ihre Panzer und Lastkraftwagen abstellten und unter den Linden tarnten. Ich sehe sie noch, wie sie durch die Wenzelsstraße Patrouille fuhren: Ein Jeep, lässig gesteuert von GI's, die Maschinenpistolen griffbereit, die Umgebung sichernd. Die Straße voller weißer Lumpen und Lappen, aber auch schöne, große und saubere Betttücher waren zu sehen. Das war die Kapitulation, das war für uns das Ende des Krieges. Unsere Mutter gebot uns, unsere Hakenkreuzfahne und die Bilder des Führers, von Großadmiral Reeder und der mit dem Ritterkreuz ausgezeichneten U-Bootkapitäne - mein Bruder hatte sich für die Luftwaffe interessiert und entsprechend Herrmann Göring und alle Fliegerasse gesammelt und übers Bett gehängt - zu vernichten. Traurig haben wir sie abgenommen, sorgfältig in eine Zigarrenkiste verpackt und im Hof vergraben. Als wir sie Monate später wieder ausgraben wollten, waren sie verschwunden. Unser Tafelsilber war im Weinberg besser aufgehoben, das Versteck dort hat keiner entdeckt.
Wir Kinder hatten wohl den Zusammenbruch Deutschlands noch nicht so richtig verstanden, in Berlin lebte ja der Führer noch, und bei den letzten Kämpfen mußte doch die “Wunderwaffe” noch eingesetzt werden. Wir, meine Geschwister, Cousin, Cousine und unsere Freunde hatten den “Lützow-Bund” gegründet. Die “emotionale Grundlage” dazu hat uns unsere Mutter mitgegeben. Sie hatte mit uns das Lied von “Lützows wilder, verwegener Jagd” am Klavier gesungen und wir waren aktiv, herumliegende Patronen zu sammeln, leere Benzinkanister zu verstecken und die herumliegenden Telefonkabel der Feinde zu kappen. Stolz lehnten wir die Apfelsinen ab, die uns die Amerikaner schenken wollten, der Endsieg stand ja noch aus.
Solcher Leichtsinn und Übermut verschwand bald, als die Russen kamen. Der letzte amerikanische Militärpolizist mit weißem Koppel und weißen Handschuhen, fuhr mit seinem Jeep nach Westen davon, und die Russen erschienen von Osten her. Sie kamen mit einer Fülle von Panjewagen, den ersten lenkte eine Kommandeuse, neben ihr lag ihr Mann, ein Offizier, sternhagelvoll, und aus einem großen Lautsprecher ertönten Siegesmärsche. Die Wagen waren je mit zwei Pferden bespannt und waren gefüllt mit Rotarmisten, Waffen und Tross. Vor der Reichskrone hing ein rotes Spruchband:
“Wir begrüßen die siegreiche rote Armee”.
In der Stadt ging der Vers um, voller Galgenhumor, der uns wohl trösten sollte:
“Willkommen Befreier,
ihr nehmt uns die Eier,
den Speck und die Butter
das Vieh und das Futter,
wir weinen vor Freud
wie nett ihr doch seid.”
Ja, und damit unsere Mutter, unsere Tante und unsere Schwestern nicht auch noch vor Schmerzen weinen sollten, spielten mein Bruder und ich “Begleitschutz”, wild entschlossen, mit unseren “Totschlägern” die Russen zu vertreiben, sollten sie sich nähern und handgreiflich werden. Ich weiß nicht, welche Engel uns damals behütet haben, wir brauchten nicht die Ehre unserer Frauen zu verteidigen. Auch als ein paar russische Soldaten, die in den Weinbergen nach Wein suchten und in unserem Winzerhäuschen nur Munition, Benzinkanister und eine Hakenkreuzfahne fanden. Meine Tante, die damals im Weinberg wohnte, war erstaunt und entrüstet - und die Russen sind nicht wiedergekommen. Erst 45 Jahre später, 1990, Glasnost war gerade ausgebrochen, hatten sich wieder ein paar Russen im Berg “zur Weinlese” verlaufen, -aber die haben wir freundlich begrüßt, verpflegt und sicher durch den mittlerweile verwachsenen Berg geführt. Druschba!
1945/46 sowie 1946/47 kamen die kalten Winter, wir hatten keine Kohlen zum Heizen und kaum Brot zum Essen. So wurden im Sommer in der Umgebung von Naumburg Ähren gelesen, Kartoffeln gestoppelt und Zuckerrüben eingesammelt, die im Winter zu Sirup verkocht wurden. Das war eine ungeliebte Arbeit, über dem heißen Ofen und in dem heißen Topf zu rühren, aber die Mühe lohnte sich: Brot mit Sirup war damals eine Delikatesse. Aber der Herd in der Küche und der Ofen in der Wohnstube, die wollten etwas zum Brennen und wir wollten es warm haben. Dafür haben wir Kohlen geklaut, am Hauptbahnhof, wo die Kohlezüge standen: Rauf auf den Wagen, die Taschen und Rucksäcke gefüllt und schnell wieder runter, damit uns die Bahnpolizei oder die Russen nicht erwischten. Allerdings gab es in der Stadt heftige Diskussionen darüber, ob das “Kohlen Klauen” nicht unter das 7. Gebot fällt und damit verboten ist. Aber wir lernten eine neue Weisung: “Not kennt kein Gebot”.
Wöchentlich einmal konnte ich nach Roßbach zu Eulaus und einmal nach Schellsitz zu Grashals gehen, um Milch zu holen, die ich sicher über die zerstörten Saalebrücken bringen und durch das Gebiet “feindlicher (Jungen)banden” tragen mußte. Zu Hause war dann die Freude groß, und eine Milchsuppe für die Familie war wieder gesichert. Dazu hatten wir auch 50 Karnickel, die mit Löwenzahn, Kartoffelschalen oder Heu gefuttert werden wollten - und die dann doch ihr Leben im Karnickelstall, selbst gebaut, lassen mußten.
Damals gab es auch “Hamsterzüge”, die nach Roßleben oder Eckartsberga fuhren, wo man Fleisch und Wurst auf Lebensmittelkarten kaufen und Mehl für Schuhe tauschen konnte. Zurück ging es dann zu Fuß, und oft bin ich erst spät in der Nacht nach Hause gekommen, allerdings immer mit vollem Rucksack. Solange unser Vater in Gefangenschaft war, hatten wir auch kein - oder nur sehr wenig Geld. Meine Mutter und wir vier Geschwister haben damals Gürtel geknüpft, Glasvasen bemalt und Weihnachtskrippen aus Sperrholz ausgesägt, angemalt und dann im Porzellangeschäft Kittlas in der Marienstraße verkauft.
Mein erstes Taschengeld habe ich im Feinkostgeschäft Eckard auf dem Topfmarkt verdient. Ich hatte samstags die Straße vorm Haus zu fegen. Saisonbedingt habe ich auch Rhabarber, Kohl oder Äpfel aus dem Eckardschen Weinberg (heute Steinmeister) in Roßbach mit dem Handwagen nach Naumburg transportiert.
Zur Schule bin ich damals auch gegangen, aber das fast nur nebenbei.[Bild] Mein erstes Zeugnis vom Domgymnasium zu Weihnachten 1944 trug den Vermerk: "Der fleißige und strebsame Junge kommt gut voran, obwohl er nicht ganz leicht auffaßt. Sein Verhalten ist ebenso erfreulich wie im Ganzen seine Leistung." In der Quinta bin ich sogar einmal Klassenprimus gewesen. Unterschrieben sind diese Zeugnisse von unserem Klassenlehrer Dr. Güldenberg und dann auch noch von Professor Steche, der damals Direktor war. Er wurde dann aber 1945 als Nazigröße und als Verfasser des “Lehrbuches der Biologie” (S. 92: “Auch andere Völker Europas haben Anteil an diesem gemeinsamen Ahnenerbe; sie sind uns also verwandt. Völker mit anderem Ahnenerbe gelten als uns blutsfremd, auch wenn sie zwischen uns wohnen und unsere Sprache sprechen, wie die Juden.”) aus dem Schuldienst entlassen. An seine Stelle trat Direktor Behne, und als Klassenlehrer hatten wir damals Herrn Thienemann (Aulus), Herrn Scheibe (mit seinem Hund Asta), Herrn Eller (-Häschen) und Dr. Fuhrmann (Calo) [Bild]. Die Satzanalyse von Dr. Güldenberg und die Lateinische Grammatik von Dr. Fuhrmann sind mir während meines Studiums und später bei meinem Unterricht als Religionslehrer eine große Hilfe gewesen.
Herr Dr. Fuhrmann hat uns auch klargemacht, dass der Nationalsozialismus, an die germanische Vergangenheit gebunden, eine “romantische” und deshalb überholte Weltanschauung vertreten hat. Bei ihm haben wir Aesops Fabeln ins Deutsche umgedichtet, den Caesar übersetzt und das Lied “Gaudeamus igitur” gesungen. Mit Herrn Eller bin ich aneinandergeraten, als ich das Gedicht “Die Weber” von Heinrich Heine nicht aufsagen wollte:
“Ein Fluch dem Götzen, zu dem wir gebeten, in Winterskälte und Hungersnöten. Wir haben vergebens gehofft und geharrt, er hat uns geäfft, gefoppt und genarrt.”
Diese Verfluchung Gottes, das erschien mir eine Blasphemie. EllerHäschen hat meinen Widerstand anerkannt, und ich brauchte das Gedicht nicht bis zum Ende aufzusagen. Mathematik hatten wir bei Dr. Silbermann, dessen präzise Deduktionen, genaue Rechnungen und das damit verbundene Verständnis für algebraische und geometrische Aufgaben mich sehr beeindruckt haben. Musik hatten wir bei Polith und Dr. Walter Haake, humanistisch: Gualterius Unkus, so hatte er sich uns vorgestellt.
Großen Eindruck hat mir damals der Konfirmandenunterricht bei Superintendent Möring gemacht. Ich habe noch mein Heft für den Vor- und Konfirmandenunterricht, in das wir am Ende jeder Stunde einen Merksatz aufschreiben mußten, der in der nächsten Stunde wieder abgefragt wurde. Zum l .und 2. Gebot hat er uns diktiert:
“Gott ist der Herr, der zu befehlen hat, aber auch für uns sorgt. Nichts anderes, auch nicht die Angst, soll über uns Herr werden. Gott gebührt Ehrfurcht und Liebe.”
Heute abstrakte Lehrsätze, die aber in jeder Stunde mit Beispielen aus dem Leben aktualisiert wurden. Zur Konfirmation im Dom 1948 bekam ich den Spruch: “Ich habe keine größere Freude als die, dass ich höre, wie meine Kinder in der Wahrheit wandeln.” (3.Joh.4.) Nach dem Abendmahl sind wir in den Weinberg nach Roßbach gegangen und haben dort Kaffee getrunken.
Was hieß nun aber “in der Wahrheit wandeln”? Lange Zeit bin ich nicht mehr zum Gottesdienst gegangen, bis mich mein Klassenkamerad Dieter Marquardt [Bild] überredete und mich in den “Jugendbund für Entschiedenes Christentum” bei Otto Schwendler am Domplatz lockte. Ein Lied der Wandervögel, christlich umgedeutet: “Wilde Gesellen vom Sturmwind durchweht, Fürsten trotz Lumpen und Loden, zieh’n wir dahin weil das Herze uns steht nur nach der Heimat dort droben” hatte mich bewegt. Wir haben in diesem reinen Jungenkreis Lieder aus dem Reichsliederbuch gesungen und Lieder wie “Ich weiß einen Strom dessen herrliche Flut” und “Ich bin durch die Welt gegangen”, sind mir noch gut in Erinnerung. Sie werden immer lebendig, wenn in mir die alten Jungvolklieder wieder auftauchen. “Vorwärts, vorwärts, schmettern die hellen Fanfaren” mit dem Refrain: “Und die Fahne führt uns in die Ewigkeit, ja, die Fahne ist mehr als der Tod”
Es hat mir großen Eindruck gemacht, dass wir selbst - nach gebührender Vorbereitung -die Bibel auslegen und einen Abend gestalten durften. Weniger gefallen hat es mir, dass wir keine Mädchen unter uns haben sollten, sondern nur separat unsere “Fromme Stunde” hatten. Und als wir dann gar keine Filme uns ansehen und keine Romane lesen sollten, da war ich froh, dass mein Freund Wolfgang Unger mich in die “Junge Gemeinde” holte, die von dem Katecheten Heinz Bobbe geleitet wurde. In der Sakristei der Wenzelskirche haben wir die Apostelgeschichte (Kap. 3: “Du sollst Gott mehr gehorchen als den Menschen”) und den Römerbrief gelesen.
Im Kindergottesdienst-Helferkreis haben wir den Kindergottesdienst in der Marienkirche mit gestaltet und unseren kleinen Kindergruppen die biblische Geschichten erzählt. Mit dabei war Annelotte Scheidig, und geleitet wurde die Helfergruppe von Pfarrer Trott. In der Schule tauchte dann die Forderung auf, in die FDJ einzutreten und das Lied “Freundschaft siegt” zu singen. Dazu wurde heftig diskutiert, ob wir uns das Kugelkreuz der “Jungen Gemeinde” oder das FDJ-Abzeichen mit der aufgehenden Sonne anstecken sollten. Wo wollten wir hingehören? Für mich gab es nur das Kreuz auf der Weltkugel, verbunden mit den Liedern “Jesus Christus herrscht als König” und “Wir jungen Christen tragen ins dunkle deutsche Land, ein Licht in schweren Tagen als Fackel in der Hand.” Das war eine deutliche Absage an den Nazikult, indem wir bislang gelebt hatten, aber auch an die FDJ, die auch nichts anderes machte als die Nazis vorher. Vor dem Schulunterricht dann in dem früheren Mädchenlyzeum in der Humboldtstraße trafen wir uns jeden Morgen in der Sakristei der Marienkirche, um den Tagestext aus der Bibel zu lesen, ein Lied zu singen und ein freies Gebet zu sprechen. Hier lernte ich auch meine Freund Hans Lieback kennen.
Die Auflösung der “Jungen Gemeinde” durch Partei und Polizei in den 50er Jahren habe ich nicht mehr miterlebt, weil unsere Familie 1950 “schwarz über die grüne Grenze” in den Westen ging. Mein Vater hatte als Zollinspektor keine Stellung mehr bekommen, in der Britischen Besatzungszone, in Bielefeld aber “wieder eingestellt”. Er war mit meinem Bruder Arnold schon voran gegangen, und als dann meine Schwester Charlotte einmal auf der Polizei wegen der “Westkontakte” ausgefragt wurde, schien es doch ratsam, die Ostzone oder die Deutsche Demokratische Republik endgültig zu verlassen. Ich wurde mit meiner kleinen Schwester Ursel von einem “Führer” über die Grenze geleitet, wo wir bei Helmstädt den westdeutschen Boden oder die Bundesrepublik Deutschland betraten. Eine Woche später kam meine Mutter mit Schwester Charlotte wohlbehalten im Westen, in Bielefeld an. Meine Kindheit und Jugend in Naumburg war damit beendet, aber vieles, was ich dort erlebt und erfahren habe, gehört zur Grundlage meines weiteren Lebens.