Die erste schwere Zeit nach dem Krieg, als die Klassenkameraden klingelten: bei Stein gibt es Kartoffeln. Man riss die Tasche vom Haken und rannte hin - manchmal mit, manchmal ohne Erfolg- man musste alles versuchen. Schlange stehen, war normal. Nach Wurstsuppe, nach Molke, nach Brot- sogar nach Kohle haben wir (mitten in der Nacht, damit man früh der erste war) angestanden. Wie wir in der Marienschule mit Mantel und Handschuhen Hausaufgaben notierten, weil für den Unterricht keine Heizung vorhanden war. Als noch Krieg war: Es gab etwas außerhalb von Naumburg ein Lokal, in dem man ohne Marken essen konnte. Auf dem Weg dorthin: Fliegeralarm. Wir mussten uns in den Felsenkeller retten - eine unheimlich Atmosphäre. In unserer Wohnung in der Weimarerstraße heulten über unseren Köpfen die Bomben, die etwas weiter in die - ich glaube, sie hieß Medlerstraße - fielen. Wo vorher Häuser standen, war da jetzt ein riesiges Loch.
Flacksplitter auf dem Stuhl eines Nachbarn, der gerade davon aufgestanden war -jede Nacht aus dem Schlaf gerissen werden und im Keller bei Flackerlicht Unsicherheit spüren.
Dann sah man alles zum ersten Mal: Panzer der Amerikaner - einen farbigen Soldaten, später die Wagen der russischen Armee - unverkennbar mit der Art, wie die Pferde unter dem hohen Joch eingespannt wurden. Wie russische Soldaten melancholische Lieder sangen, wenn sie über die Straßen marschierten. Wie man bei Stromsperre im Dunklen auf der Straße Angst hatte.

Die Prozession im Bürgergarten

Die katholische Kirche war für einen Flüchtling ein guter Ansprechpartner - so beziehen sich auch viele Erinnerungen nach dem Krieg darauf. An Fronleichnam wurde von der (damals noch winzigen) katholischen Kirche aus bis zum Bürgergarten hin (also von der Kirche, über diesen Wenzelsring -?- bis zur Bürgergartenstraße, dann hoch bis zum Bürgergarten - dort quer durch, bis man auf der anderen Straße, die parallel zur Bürgergartenstraße verlief, wieder zurück zur Kirch kam) eine Prozession unternommen mit allem, was dazu gehörte: Monstranz unter dem Baldachin, Kommunionkinder in weißen Kleidern, Fahnen, Banner, danach die Gemeinde. Im Bürgergarten waren ganz prachtvolle Altäre im Freien errichtet worden mit mühsam gelegten Blütenblätter-Symbolen dazwischen und auf den Wegen. Die Prozession nahm den ganzen Vormittag in Anspruch und war für die Katholiken das Ereignis. Weil die Kirche so klein war, wurde mit der evangelischen Othmarskirche vereinbart, dass das Hochamt am Sonntag dort gehalten werden konnte. Da gab es mehr Platz -was besonders an den Jugendsonntagen wichtig war. Wegen dieser Vereinbarung wurde vor und nach der Messe das Allerheiligste hin- und hergetragen: durch den Pfarrer, flankiert von zwei Messdienern. Häufig kam es vor, dass gerade dann, wenn der Pfarrer von dort oder von da unterwegs war, ihm ein Musikzug der FDJ entgegenkam. Keiner der Gehenden und sich auf engstem Raum Begegnenden wich zurück oder hielt ein - so war es ein reines Geschicklichkeitsspiel, dass da nicht irgend jemand zu Fall kam. Auch wenn in der kleinen Kirche eine Messe abgehalten wurde, kam es öfter vor, dass man gerade bei der Wandlung (also dem leisesten Teil der Messe) draußen mit lautem “uff-tata” vorbeimarschierte.
Ein anderes sehr bedrückend in Erinnerung behaltenes Erlebnis ist der 17. Juni 1953. An diesem Tag war ich nach der Schule bei einer Schulkameradin in der Bürgergartenstraße zu Besuch, als meine Mutter dort plötzlich auftauchte. Diese Zeit war ungewöhnlich für eine Berufstätige, also musste etwas Besonderes passiert sein. Meine Mutter sagte nur, komm schnell nach Hause. Wir gingen (in Richtung Weimarer Straße) sofort los und kamen über den Wenzelsring. Dort entlang stand russisches Militär mit aufgepflanztem Bajonett. Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Von den schweigend dastehenden Männern ging Bedrohung aus. Meine Mutter und ich hielten uns aneinander fest, obwohl das total unüblich zwischen uns und ich kein Kind mehr war. Zu rennen wagten wir nicht - so gingen wir, so schnell wir konnten den langen Weg in dem Bewusstsein, etwas Unheimliches, Unberechenbares zu erleben. Die Straßen waren menschenleer.
Andere Erlebnisse in Naumburg waren die Aufmärsche am l. Mai (schön klang es uns in den Ohren, wenn der Lautsprecher sagte - es marschiert ein - die Oberschule Naumburg/Saale)-unvergessen auch die gänsehautverursachenden Fackelzüge - Ende war ein Riesenfackelhaufen an der Vogelwiese-, Kirschfest -und natürlich auch die Tanzstunde im Ratskellersaal eine Etage hoch.
Wie wir Mädchen am Tag des Kränzchens und des Abschlussballs nachmittags mit Geschirr, Tischkarten und Kuchen in den Saal gelassen wurden, um die Tische einzudecken. Wie sehr freute man sich auf einen Abend mit der Kapelle “Alex Heide” im Ratskellersaal unten. Wie erwachsen kam man sich da vor, wie viel Organisationstalent musste man haben, um an Karten zu kommen. Das alles kommt einem in den Sinn - und noch vieles mehr - das den vorgegebenen Rahmen jedoch sprengen würde. Interessant ist noch, dass man glaubte, allem diesem wohnt ein Zauber inne - der sich aber in nichts auflöst, wenn man die gleichen Orte als Erwachsener nach so langer Zeit wieder sieht. Wie schön, dass einem das im “Land der Erinnerung” nicht passieren kann.

Bei Bürgergarten fällt mir auch noch ein, da wir damals ein Stück Land zugewiesen bekamen, auf dem wir Gemüse anbauen durften. Das war damals öffentliche Anlage - und ist es - wie ich mich überzeugt habe - auch heute wieder. Wir haben dort ein bezeichnetes Stück neben - wenn ich es noch recht weiß - drei anderen gehabt. (Es wurde also ein freigegebenes Stück in 4 Teile geteilt) Wir haben dort umgegraben, gepflanzt (Wasser bis dorthin getragen (!!) von der Weimarer Straße aus) und geerntet. Dazwischen haben alle vier abwechselnd Wache gehalten, damit nicht alles gestohlen wird.