. "Dort, die Pappel, die habe ich vor zwanzig Jahren zu seiner Geburt gepflanzt. Sie steht für ihn, aber er kommt nicht wieder.

Bomben auf Naumburg

Wenn die "Christbäume" am Himmel standen, wußten wir, daß Leuna bombardiert wurde. Trotzdem blieben alle Lichter aus und es ging in den Keller. Beim Rückflug der Bomber dröhnten sie nicht mehr so bedrohlich, ihr Geräusch klang heller, sie hatten ihre zerstörerische Fracht abgeworfen. In einer Nacht hatten sie wohl noch nicht alles abgeladen, sie klinkten ihre letzten Bomben über Naumburg aus und es traf das "Judenviertel" (genau das, was auf dem Faltblatt mit der Ankündigung dieser Ausstellung abgebildet ist). "Mein Gott", sagten die Leute, "was die Nazis nicht geschafft haben, das besorgt jetzt der Tommy", und die Menschen waren sehr betroffen. Gleichwohl waren sie auch froh, daß die nahe gelegene Stadtkirche nur geringen Schaden erlitten hatte«
Eines Tages, als ich mich auf dem Schulweg befand, heulten die Sirenen - Voralarm. Sollte ich umkehren oder zur Schule laufen? Welcher Weg war kürzer? In Höhe der Fischstraße dröhnte und brauste es, ein Mann riß mich mit sich, stieß mit der Schulter eine Haustür auf, wir flogen hinein» Er drückte mich unter die Treppe und hockte sich schützend vor mich. Es krachte gewaltig, dann hörte man die Flugzeuge abdrehen. Wahnsinnige Stille. Der fremde Mann rappelte sich auf, half auch mir, zupfte mein Mäntelchen und meinen Ranzen zurecht und streichelte mir die Wangen. "Das ist noch mal gut gegangen, meine Kleine I" Ich sah ihn groß an und lief Richtung Schule. Erst viel später wurde mir bewußt, daß er mir das Leben gerettet hatte. Wie gerne hätte ich ihm gedankt, und noch heute denke ich in Dankbarkeit an diesen fremden Menschen. Ich stieg über Erdklumpen, Steine und wohl auch Knochen, bis ich an der Marienschule ankam. Direkt vor dem Schultor lag eine Schädeldecke mit roten Haaren. Hier konnte ich nicht weiter; das Grauen packte mich, und ich lief weinend nach Hause.
Aus dem zerbombten Teil des Friedhofes wurde später ein Park für die Opfer des Faschismus gemacht. Die Bevölkerung nannte ihn den "Knochenpark". Daß gerade diejenigen einen Park für die Opfer einer Diktatur angelegt haben, die selbst schon wieder die Gefängnisse und Zuchthäuser mit sogenannten "Staatsfeinden" füllten* war schwer nachzuempfinden und noch schwerer zu ertragen.
Der von den Bomben verschont gebliebene Teil des Domfriedhofs gammelte während der DDR-Zeit vor sich hin. Viele sehr schöne Grabstätten, auch von wichtigen Menschen der Geschichte, fanden wir nach der Wende, und es wurde uns von der Stadt versprochen, daß aufgeräumt und gerettet wird, was möglich ist.
Was für ein Frieden!
Es war ein wunderschöner Frühsommertag. Blatter Himmel, Sonnenschein und eine Ruhe, die beängstigend wirkte, nach alledem.
"In deiner Küche stinkt es", sagte mein Großvater zu meiner Mutter. "Aber Vater, das kann nicht sein, bei uns ist alles sauber." Es wurde gesucht. Auch keine faulende Kartoffel. Aber das Fenster war geöffnet und ich rief: "Der komische Geruch kommt von draußen1!"
Wir standen alle drei am Fenster und schnupperten und horchten. Es gab auch ein undefinierbares Geräusch von ratternden Rädern, Hufen, Stiefeln, Stimmengewirr und Musikfetxen. Da kamen auch schon Nachbarn, die Kinder voran, und riefen voll Entsetzen; "Die Russen kommen, die Russen kommen - die Russen sind da!"
Ich, als Kind, die Beine untern Arm und übern Zaun des alten Werksgeländes Eckartstraße - Pfortastraße. Da kamen sie: Ein endloser Zug aus Wägelchen mit den kleinen Steppenpferden davor. Mit der Wodkaflasche und der Ziehharmonika lagen die Offiziere auf Heu und auf Stroh, doch keiner betrachtete sie froh. Die Mannschaften kamen zu Fuß. Sie füllten alle Kasernen, alle Turnhallen, Schulen und alle Gebäude, in denen irgendwie Platz war.
Das bedeutete schulfrei, bis Villen geräumt waren. Die Besitzer galten sowieso als Bourgois, man konnte ihnen alles wegnehmen. Viele von ihnen hatten den Ernst der Lage erkannt und gingen in die Westzonen, bevor sie verschleppt wurden. Diese Praxis ließ meine Mutter die Äußerung tun: "Jetzt geht das wieder los, es trifft nur andere." Daraufhin bekamen wir in unsere 50 m -Wohnung einen Offizier, den Pjotr, seine Geliebte, eine Offizierin, die Nina und deren Burschen, den Nikolai, als Einquartierung.
Nun waren die Schulen geräumt und der Unterricht sollte beginnen, jedoch wurde bekanntgegeben, daß wir Kinder mit Eimern in die Schule kommen sollten.

Wir bekamen Wasser und Desinfektionsmittel, sowie Bürsten und Scheuerlappen, und haben unsere Michaelisschule von Läusen, Wanzen und Dreck befreit* Das war der Anfang einer langen Besatzungszeit.
Wie vir mit unserer Einquartierung fertig wurden? öaß wir noch leben und auch vor Vergewaltigung verschont geblieben sind« verdanken wir der GPU, die auf der Jenaer Straße in einer Villa untergebracht war und auch immer sofort kam und die betrunkenen Offiziere mitnahm, wenn wir nächtens zum Fenster hinaus um Hilfe schrien. Wieso sich so viele Offiziere bei uns aufhielten? Unser Pjotr hatte die Wodkaverteilung für eine Gruppe von ca. 10 Offizieren. Manchmal kamen alle und soffen die Wochenration gleich an Ort und Stelle, das waren die schlimmen Nächte. Manchmal schickten sie aber auch ihre Burschen die Ration abholen.
Einer der Offiziere, Fedor, war ein feiner, sensibler Mensch. Er saß manchmal nachmittags in unserer Küche und las uns die Briefe seiner Mutter vor. "Mein Ijeber Junge, der Krieg ist nun schon so lange aus und Du kommst noch immer nicht wieder* Ich stehe täglich an der Landstraße und warte auf Dich." Da weinten wir alle drei. Er hat uns auch oft gewarnt, wenn er wußte, daß sich die Offiziere für den Abend in unserem kleinen Wohnzimmer zum Saufgelage verabredet hatten. So konnten wir unser Schlafzeug nehmen und in der Nachbarschaft übernachten.
Eines Tages lasen wir in der Zeitung, daß ein russischer Offizier an der Wenzelskirche von eigenen Kameraden erschossen worden war. Fedor kam nicht mehr* Wir fragten Nina. Sie sagte: "Fedor kaputt, er euch nie wieder sagen, daß alle kommen und trinken!"
Nach einigen Wochen bekam auch Pjotr eine Villa zugewiesen. Sie zogen aus, und als der zweite Bursche, Mische, zu allem andern noch die Glühbirnen aus den Lampen schraubte, waren meine Mutter und ich fast ohnmächtig vor Erleichterung.
Unsere "Elle"
Sie fuhr und fuhr und quietschte, für zehn Pfennig eine Runde. Manchmal überlegten wir: für'n Groschen Brause oder 'ne Rundfahrt?
Wir stiegen an der Pfortastraße ein, Wenzelsring, Vogelwiese, kühne Kurve an der Reichskrone in die Jakobstraße, mit Gerumpel am Wenzelsbrunnen um den Markt in die Herrenstraße, Lindenring, große Schleife zum Jägerplatz, mit Karacho die Bergstraße hinunter - Aufenthalt am Bahnhof. Dann den Moritzberg wieder hinauf. Man sah immer etwas Neues und wenn die Bahn nicht roll war, erzählte uns der Schaffner eine Menge von früher. So lernten wir unsere Heimatstadt kennen. Manchmal durften wir auch klingeln. Schön war's.
Man sagte in meiner Kindheit nicht "Straßenbahn", sondern "Elektrische", und wir Kinder kürzten ab auf "Elle", nicht "Ille", wie ich jetzt schon oft gehört und gelesen habe.
Während der letzten Kriegsjahre und in den ersten Jahren nach dem Krieg, als die Leute keine Autos besaßen, fuhr unsere Elle mit einem kleinen offenen Anhänger für's Gepäck. Reisende konnten darauf ihre Koffer unterbringen oder man hievte seinen schweren Rucksack mit gehamsterten Kartoffeln hinein. In den Kurven mußte die Bahn besonders langsam fahren, damit das angehängte Leichtvehikel nicht entgleiste.
Im Fahren aufspringen oder mit dem Fahrrad anhängen war verboten. Aber wir taten es doch. Einmal kam ich auf der Bergstraße mit dem Hinterrad in das Gleis. Ich war noch fähig, mein Fahrrad halb tragend nach Hause zu schieben. So etwas nennt man Erfahrung.
Ich wünschte mir, daß sie wieder ihre Runden dreht, unsere Elle, auch als Stadtrundfahrt für Touristen.
Die Rollschuhbahn im Friesenheim
Für uns Rollkunstläufer war die Rollschuhbahn im Friesenheim ein Paradies«
Eva und Margot Schötensack, Klaus Benkwitz, Joachim Krusch und viele andere gute Läufer veranstalteten jedes Jahr mehrmals Schaulaufen. Das waren herrliche Feste, auch für mich, obwohl ich zum Nachwuchs gehörte und meine Sprünge noch nicht so gewagt waren, und ich die Pirouetten noch nicht so wirbeln konnte«
Allenthalben wurden jetzt die Sportvereine mit allen Mitgliedern in die FDJ überführt. Wer nicht der FDJ beitreten wollte, durfte keinen Sport mehr treiben.
So ereilte auch uns Rollkunstläufer das Schicksal. Einstimmig erklärten wir, daß wir nicht Mitglieder der FDJ werden wollten. Eines Tages, wir waren zum Training gekommen, durften wir das Gelände nicht mehr betreten. Die Bahn wurde abgebaut und vor dem FDJ-Heim, einer alten Villa am Jägerplatz, zum Teil wieder aufgebaut.
Nun war es vorbei mit dem schönen Schaulaufen. Ein paar von uns Jüngeren schlichen sich noch einige Male hin, aber es wurde uns verboten. Eine neue Generation wuchs heran.