Christentum” EC, der im Hause der Landeskirchlichen Gemeinschaft am Domplatz 7 seinen Treffpunkt hatte. Sein Wirkungskreis war Naumburg, aber sein Horizont ging weit darüber hinaus. Alle, die “bei Otto” im Jugendkreis waren, aber später auch die Ausgewanderten, hat er in ganz Deutschland mit “Otto-Kurz-Grüßen” begleitet“, die Freude bereiten, aber nicht zur Antwort verpflichten sollten.”
Otto Schwendler war im Krieg gewesen und wohl früh aus der Gefangenschaft entlassen worden, aber er hat seine jungen Brüder nicht mit Kriegserlebnissen gefesselt oder verschreckt, wir wußten auch nicht, welchen Dienstgrad und ob er eine Auszeichnung bekommen hatte. Ich glaube, er hat uns mal von Kriegsgefangenen erzählt, die auch “den Herrn Jesus kennen gelernt hatten” - und mit denen er sich deshalb gut habe verständigen können, und von “Zeugen Jehovas”, die auch im KZ gewesen waren, und die auch auf die Wiederkunft des Messias warteten. Es ist ihm gelungen in der Zeit des Zusammen- und Umbruchs 1945 bis 1950 einen stattlichen Jugendkreis zu sammeln, und ich sehe uns noch 1948 – nach meiner Konfirmation – in zwei großen Kreisen sitzen, singend, lesend, fragend, antwortend und betend. Martin Thalheim, Johannes Kunthoff, Johannes Zipfel, Alfred und Fritz Voll, Hans-Dieter Marquardt, Hans Lieback, Wolfgang Unger und einer, dessen Vornamen ich nicht mehr kenne, der Erbes hieß und den wir “Erbse” nannten.
Wir trafen uns immer in den Kellerräumen der Landeskirchlichen Gemeinschaft, ich glaube jeden Mittwoch am Abend, und wir kamen uns vor wie die ersten Christen in den Katakomben Roms, als wir die Geschichte der 1. Gemeinde, die Apostelgeschichte lasen: Die Bekehrung des Paulus und unsere Bekehrung, das Bekenntnis des Stephanus und unser Bekenntnis, der Schwindel von Anamas und Saphira und unsere Wahrhaftigkeit. Immer ging es um die Bekehrung zu Jesus, um die neue Beziehung zu ihm und die “Absage an die alte Welt”. Zu dem neuen Leben gehörte das persönliche Gebet, das Fürbittengebet für andere und die Gebetsgemeinschaft mit den Brüdern. Und praktisch wurde es auch: Wir sollten uns gegenseitig zu den Jugendstunden abholen, und wenn möglich, einen Neuen mitbringen. So hat mein Freund Dieter Marquardt mich gelockt und überredet, und dann war es das Lied von den “Wilden Gesellen, vom Sturmwind durchweht, Fürsten trotz Lupen und Loden, ziehn wir dahin, weil das Herze uns steht, nur nach der Heimat dort oben” mit dem Refrain : “Uns geht die Sonne nicht unter”, das mich bewegt hatte.
Noch etwas anderes war neu: Hier wurde nicht gelehrt von oben nach unten, von einer Kanzel in die Bänke, sondern hier wurde die Schrift gemeinsam reihum gelesen, der Text von jedem ausgelegt und dann miteinander diskutiert: “Was ist uns unklar? Was ist richtig? Was ist falsch? Was ist zu tun?” Wir durften selber Bibelabende vorbereiten, und ich habe noch Konzepte, nach denen ich im Jugendkreis vorgetragen habe: Bibelarbeit über Johannes 8,31 -56: “Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht”; Tageslosung Matthäus 4,10. “Du sollst anbeten Gott, deinen Herrn, und ihm allein dienen”; Apostelgeschichte 20: “Eutychus verschläft die wichtigste Stunde seines Lebens” und Lukas 18,9-14: “Gott widerstehet den Hoffärtigen, aber den Demütigen gibt er Gnade.” Die Bibel und ihre Auslegung, das war Ottos wichtigstes Anliegen, um dadurch das Verhältnis zu Jesus immer fester zu knüpfen.
Ottos Stärke aber war nicht nur die Herausforderung zur eigenen Stellungnahme und zur Bestätigung der jeweiligen Position, sondern seine Stärke war auch das seelsorgerliche Gespräch, und jeder, den ich später um eine Stellungnahme zu Otto und seine Tätigkeit gebeten habe, hat gesagt: “Ich war in seiner Seelsorge, und da verdanke ich ihm viel.” Diese Seelsorge zeichnete sich dadurch aus, daß man Otto alles erzählen konnte, was einem auf dem Herzen lag, und daß man gewiß und sicher sein konnte, daß kein anderer etwas davon erfahr, es sei denn “Der da oben”, dem er alles in der Fürbitte vorlegte. Keine Eltern, keine Lehrer, keine Freunde und – horribile dictu – keine Spitzel haben je etwas von ihm erfahren, aber er hat sich mit uns “in aller Not” persönlich vor Gott gestellt und seine Hilfe zugesagt. Er hat uns auch mitgeteilt, woraus er seine Weisheit schöpfte.
Es war damals gerade erschienen von Ernst zur Mieden das Seelsorgebuch: “Sprechstunden mit deinem Ich”. Zu solchen Sprechstunden hat er uns regelmäßig eingeladen, und wir haben ausgiebig davon Gebrauch gemacht: Nach der Bibelstunde, bei ihm zu Hause, auf Spaziergängen und am Telefon.
Ich habe noch ein Heft, das den Titel trägt: “Strongforth-Methode” – “Ratschläge des Strongforth-Institutes Frankfurt am Main, Roßmarkt 25". Otto hatte mir das Original gegeben, und ich habe in dieses Heft geschrieben und gezeichnet, was mir wichtig erschien. Auffällig sind zunächst die Strichmännchen, die Hanteln nach vorne, nach hinten und nach oben stemmen; Strichmännchen, die den Rumpf seitwärts, vorwärts und rückwärts wenden und selbst im Liegen ihre Arme strecken und beugen. Das waren Übungen zur ”Entwicklung von Brust und Lunge, für die Schultermuskeln, den Bizeps und die Bauchmuskeln”. Und als allgemeine Regel galt: “Jeden Morgen die kalte Abwaschung nicht vergessen. Alle Übungen hintereinander machen. Bei Zeitmangel Übungen kürzen. 8 Stunden Schlaf täglich. Täglich eine Stunde wandern, keine zu engen Schuhe. Tee, Kaffee, Alkohol möglichst meiden, Tabak erst recht. Ist der Körper in Ordnung, so sind auch die geistigen und Willenskräfte auf Draht.” Ich weiß nicht, wem Otto diese “Strongforth-Methode” noch empfohlen hat, ich weiß nur, daß sie dem “Sprungfeder-Helmut” (so Ottos Name für mich) gut bekommen ist. So hat Otto uns in unserer körperlichen und geistigen Entwicklung, in der Zeit des Zusammenbruchs und des Aufbaus zweier totaler Herrschaftssysteme, für die einmal das Kollektiv der Rasse, zum andermal das Kollektiv der Klasse wichtig waren, sich um uns und unsere Seele gesorgt.
Die allgemeine Begrüßung: “Na, wie geht’s?” hatte bei ihm eine vielschichtige Bedeutung: “Woher-Wohin?”, “Zufrieden oder unzufrieden?” ,“Gut oder Schlecht?” und immer die Kernfrage nach der Seele und ihrer Gottesbeziehung: “Wohin gehst Du?”, “Mit wem gehst Du?” “Geht Jesus mit Dir?” Er war es, der “nach uns”, nach Mir und Dir gefragt hat und uns damit zur Selbst-und Gottesgewißheit und zur Selbst- und Gottesverantwortung in einer menschenverachtenden Zeit berufen hat. Das war seine Wirkung. Gewollt hat er noch etwas anderes. Als ich ihn als Antwort auf einen “Otto-Kurz-Gruß” einmal bat, doch einmal zu schreiben, wie es ihm denn ginge, da hat er zu meinem Bedauern abgewehrt: “Das ist nicht so wichtig.”- und gepaßt. Warum? Ich finde eine Antwort in dem Lied 373 des Reichsliederbuches “Stern, auf den ich schaue”, das wir an den Bibelabenden im Keller der Landeskirchlichen Gemeinschaft oft gesungen haben: “Drum so will ich wallen, meinen Pfad dahin, bis die Glocken schallen und daheim ich bin. Dann mit neuem Singen jauchz ich froh Dir zu: Nichts hab ich zu bringen. Alles,Herr, bist Du.”