später geboren als die Kindergruppe auf dem besagten Bild.
Ausgehend vom Standpunkt des Fotografen möchte ich (*1942) hiermit in Gedanken einen Spaziergang durch die Dompredigergasse meiner Kindheit und Jugendzeit und das angrenzende Viertel beginnen. Auf geht es in Richtung Norden:
Die alte Lehmmauer auf der Ostseite der Gasse war in der Nachkriegszeit schon sehr zerfallen. Wir Kinder kratzten gern etwas Lehm von der Mauer um zusammen mit Wasser eine herrliche „Meierpampe“ zu erzeugen. Im Grundstück mit der Frau vor der Tür wohnte damals eine Familie, die eine umfangreiche Tierhaltung betrieb. Sie hatten die später zu DDR- Zeiten übliche „Specki- Tonne“ für Küchenabfälle schon damals in den Nachbarhäusern eingeführt. Wenn geschlachtet wurde, konnten sich die Futterlieferanten dann mit Wustsuppe versorgen.
Am nördlichen Abschluss der Lehmmauer stand ein Pavillon aus Fachwerk und Lehm. Dieser wurde später abgerissen und an seiner Stelle stehen heute drei Garagen. Hier war auch eine Eingangstür zur damaligen Gärtnerei Hornig. Der Gärtnermeister nutzte die heute nur eine Ruine darstellende Orangerie als Arbeitsraum und Gewächshaus. Neben dieser Gärtnerei gab es im Umfeld noch die Gärtnerei Hädicke in der Probstei sowie mehrere Gärtnerein in der Georgengasse, welche in der Nachkriegszeit sehr intensiv bewirtschaftet worden sind.
Dompredigergasse Nr. 5 war und ist auch heute noch das Pfarrhaus. Mein Geburtshaus war Nr. 6, es stand daneben. Heute befindet sich an dessen Stelle ein Neubau. Aus einem Bodenfenster unseres Hauses konnte man in das Arbeitszimmer des Dompfarrers schauen, es war damals Prof. Stolzenburg.
Das Haus Dompredigergasse 6 war ein´s wie viele in diesem Stadtteil, Parterre anderthalb Zimmer, im ersten Stock drei Räume im Vorderhaus und zwei ein halb Räume im Hinterhaus. In den drei kleinen Zimmern im Dachgeschoss wohnten wir und dort wurde ich auch an einem eiskalten Februartag im Kriegswinter 1942 geboren. Nach Kriegsende wohnten im Haus vier Familien, insgesamt 13 Personen, zwei Kinder wurden im Laufe der folgenden Jahre noch geboren. Alle gingen auf eine Latrine, die sich neben dem Waschhaus und vier kleinen Kohlenkammern auf dem winzigen Hof befand. Das Kellergewölbe mit den vier Lattenverschlägen war über eine Falltür im Hausflur zu erreichen. Im Hof und im Hausflur standen vier Handwagen, die „Trabis“ der späten vierziger Jahre.
Es geht weiter die Georgenmauer entlang nach Osten. Dort und in der Wagnerstraße, wo heute unzählige Autos parken, gehörte die Straße uns Kindern, wir konnten ungestört auf der Straße spielen; denn vorbei fahrende Autos waren eine Seltenheit. Aber am liebsten hielten wir uns im Turnhof der Georgenschule auf. Dort wurde Ball gespielt, in der Weitsprunggrube gebuddelt und auf die großen Lindenbäume geklettert. Einer aus der Clique war im Besitz einer Taschenuhr mit Sekundenzeiger. Diese war das wichtigste Utensil für unsere Rundenrenn- Wettbewerbe.
In den fünfziger Jahren verwandelte sich der Turnhof im Winter in eine Spritzeisbahn. Stundenlang glitten wir mit unseren „Absatzreißern“, das waren Schlittschuhe, welche mittels einer Kurbel an den Schuhen befestigt wurden, über das Eis.
Ein Höhepunkt war für uns Kinder auch immer die Vorbereitung von Boxveranstaltungen, die je nach Wetter entweder im Turnhof oder in der Georgenturnhalle durchgeführt worden sind. Wir halfen beim Aufbau des Boxringes und schleppten unentwegt Klappstühle und Bänke heran. Als Belohnung durften wir dann meisten der abendlichen Boxveranstaltung beiwohnen. Das war schon was; denn Naumburg verfügte in den fünfziger Jahren über eine gute Boxstaffel und die vielen Boxsportfans huldigten unter anderem einem „Schorch“ Schleußner, einem Peter Fahrenkrug und einem Hannes Scherbaum.
Im Norden schließt sich an den Turnhof das Gelände des damaligen Jugendklubhauses (heute Jugendklub „Otto“) mit der alten Rollschuhbahn an. Dass Naumburg in den Fünfzigern die Rollkunstlauf- Hochburg der noch jungen DDR war, brauche ich wohl nicht besonders zu betonen. Renate Löser und Betty Otto waren neben zahlreichen anderen talentierten Mädels die unangefochtenen Stars der Rollkunstlaufszene. Aber ich möchte auch meinem Klassenkameraden aus der Mittelschule, Rainer Benisch, ein Denkmal in dieser Sportart setzen; denn er war der einzige Junge in diesem Mädchenverein. Er gewann natürlich alle Meistertitel in seiner Klasse, da er meistens im Alleingang bei Wettbewerben startete.
Doch zurück zur Georgenmauer. Obwohl in unmittelbare Nähe wohnend, bin ich nie in die Georgenschule gegangen. Ich kenne diese Schule nur vom Wäscheaufhängen; denn die Hausfrauen aus den Anliegerstraßen durften bis Anfang der fünfziger Jahren die große Wäsche auf dem riesigen Boden oder auf dem Schulhof dieser Schule aufhängen. Gegenüber der Georgenschule befand sich die Bäckerei Rühlemann (später Sander) und im Nachbarhaus der Kramhändler Wedemeyer. Letzterer war für uns Kinder interessant, weil er Brausepulver führte, damals eine Leckerei. An der Ecke zum Neuen Steinweg war in einem winzigen Häuschen der Milchladen Baumgärtner untergebracht. Herr Baumgärtner versorgte auch mittels eines Handwagens, auf dem sich mehrere Milchkannen befanden, als fliegender Händler das Siedlungsviertel. Später zog dieses Geschäft in ein Eckhaus Windmühlenstraße – Georgenmauer und wurde von Frau Hermann geführt. An dieser Straßenkreuzung befanden sich auch noch die Bäckerei Schmidt und die Fleischerei Schütze. Die Fleischerei habe ich einesteils in unguter Erinnerung, da es dort speziell vor den Wochenenden sehr voll war und meine Mutter mich oft als „Platzhalter“ in die Warteschlange schickte. Fast regelmäßig wurde es mir dort durch die Herumsteherei und die ungewohnten Fettdüfte schlecht und ich war heilfroh, wenn ich abgelöst wurde. Anderseits schmeckten mir die Wurstwaren sehr gut, leider kamen diese verhältnismäßig selten auf den Tisch. In der Vorweihnachtszeit wurden die Lebensmittelmarken für Wurstwaren immer wochenlang aufgespart, um für Weihnachten einen gewissen größeren Wurstvorrat anlegen zu können. Wenige Tage vor Heiligabend hingen dann meisten drei komplette Würste (Blut, Leber, Knack) an einem Haken in der Schlafstube und ich konnte es kaum erwarten bis diese zum Fest angeschnitten wurden.
Weiter geht es südwärts die Windmühlenstraße entlang. Rechts zweigt die Webergasse ab und dort befand sich in einem Hinterhaus eine elektrische Wäscherolle. Dieses Ungetüm erweckte als Kind mein technisches Interesse. Fasziniert verfolgte ich immer wieder den Richtungswechsel des schweren mit Steinen gefüllten Holzkastens, der die auf Rollen gewickelten Wäschestücke glättete.
In der Windmühlenstraße gab es auch den letzten innerstädtische Bauernhof, ein Hof wie auf dem Dorfe mit Misthaufen und Stallungen. Er wurde bis weit in die Fünfziger von der Familie Altenburg betrieben.
Diesem Hof gegenüber befand sich der Gemüseladen Grossek. Die kleine Frau Grossek, die auch an den Markttagen auf dem Marktplatz Gemüse und Obst verkaufte, war ein Naumburger Original. Gegen ihr Mundwerk konnte man nicht ankommen und ehe man sich versah, hatte man beim Einkauf auch noch etwas nicht mehr ganz Einwandfreies in der Tasche.
Im Haus daneben, es ist heute unbewohnt und dem Verfall preisgegeben, wohnte mein Schulkamerad Bernd, den ich seit der 1. Klasse kenne. Wir sind heute noch befreundet und treffen uns regelmäßig, obwohl er nicht mehr in Naumburg wohnt. Die erste Etappe meines täglichen Schulweges endete hier; denn ich musste dort auf dem in der Küche befindlichen Kohlenkasten sitzend warten, bis Bernd fertig gefrühstückt hatte. Dann zogen wir gemeinsam los, verlängerte Windmühlenstraße, Steinweg, „Pfütze“ (Othmarsweg) und Kramerplatz wurden passiert, bis wir in der Schulstraße angekommen waren.
Im Hinterhaus war eine Schlosserei untergebracht und schräg gegenüber die Bücherei von Alfred Zeisler. Mein Vater lieh sich sehr oft Bücher dort aus. Das ging aber nicht allzu lange; denn der gesamte Buchbestand wurde eines Tages konfisziert und Herr Zeisler handelte von da ab mit Büchern und Büromaterial.
An der Ecke zur Seilergasse war die Fleischerei Zeigermann und in der verlängerten Windmühlenstraße die Kohlenhandlung Böhme. Von dort habe ich so manchen Handwagen mit Briketts in die Dompredigergasse gezogen.
Unser wichtigster Einkaufsladen war der von Ernst Selmar an der Ecke Seilergasse – Brunnengasse. Als Kind beeindruckte mich dort immer der riesige Butterblock, von dem kleine Butterstückchen mit einem großen Messer abgeschnitten wurden. Weitere Geschäfte in der Brunnengasse waren der Gemüsehändler Haase, der Fotohändler Sack, bei dem ich mir meinen ersten Fotoapparat, die Plastekamera „Pouva Start“ gekauft habe, der Elektriker Netz (Nomen ist Omen), der Textilladen Springer und am Ende der Gasse der Optiker Riechard, der in der Vorweihnachtszeit immer wunderschöne Modellbahnen in einem Schaufenster ausstellte und das Zigaretten und Spirituosengeschäft Kröhl. In letzterem wurde nicht nur eingekauft, sondern hier traf sich die Männerwelt um alle großen und kleinen Neuigkeiten auszutauschen und zu diskutieren.
Weiter geht’s ein kurzes Stück den Lindenring entlang und dann in den Steinweg.
Gleich rechts am Anfang das „Hackerbräu“, eine urige Kneipe (die sie auch heute noch ist), bewirtschaftet wurde sie am Anfang der sechziger Jahre von zwei älteren Damen, das kleine Bier kostete 40 Pfennige. Wir trafen uns zu dieser Zeit dort jeden Freitag- Abend, es wurde getrunken, gewürfelt, geknobelt, Karten gespielt, Neuigkeiten ausgetauscht und es war immer urgemütlich.
Auf der anderen Straßenseite neben dem Bürstenmacher Steinbrück war die Glaserei und Bilderrahmerei Nauendorf. Dieses Geschäft war für uns Schuljungen deshalb interessant, weil dort auch in unzähligen Alben eine sehr umfangreiche Briefmarkensammlung vorhanden war. Sehr oft ließen wir uns die nach Ländern sortierten Briefmarkenalben zeigen, um für einige Groschen Briefmarken zu kaufen.
Auf dem Steinweg gab es unter anderem auch wieder einen Gemüseladen, einen Lebensmittelladen, zwei Fleischereien und noch einen Briefmarkenhändler.
Der Steinweg führt direkt zum Naumburger Dom und über dieses Bauwerk braucht man keine weiteren Worte verlieren. Als Kinder sind wir sehr gern auf dem fast den ganzen Dom umgebenden reichlich kniehohen Steinsockel entlangbalanciert. Viel zu sehen gab es auch, als Ende der vierziger Jahre auf den Südost- Turm des Doms eine im Krieg verschont gebliebene große Glocke heraufgezogen wurde. Interessant war für uns Schuljungen auch der Domgarten mit den Teichen an der Freyburger Straße. Wir suchten dieses Gelände gern nach dem Religionsunterricht auf. Dazu mussten wir nämlich aus unserer Schule hierher kommen, da dieser Unterricht in der alten Domschule, die sich über dem Kreuzgang befand, abgehalten werden musste. Allerdings durften wir uns dabei nicht vom Dom- Hausmeister Klapperstück erwischen lassen; denn dieser war ein sehr grimmiger Zeitgenosse.
Viel Freude bereitete es mir auch, mit meinem luftbereiften Roller vom Oberlandesgericht hinunter zum Domplatz zu rollern. Dieses Spiel konnte allerdings nicht lange betrieben werden; denn die russischen Soldaten und Offiziere, die sich im Oberlandesgericht und den umliegenden Häusern einquartiert hatten, vernagelten sehr bald mit einem hässlichen Bretterzaun das westliche Ende des Domplatzes, so dass von dort die Georgenstraße und die Straße Hinter dem Dom nicht mehr passiert werden konnten.
Das wunderschön restaurierte Haus Domplatz 4, das sogenannte Domnest, steht am Eingang der Dompredigergasse (vom Domplatz aus) und damit hat sich der Ring geschlossen; noch ein paar Schritte und man befindet sich wieder am Anfang der gedanklichen Wanderung durch die Gassen der ehemaligen Domfreiheit.
ch mache mit Gästen gelegentlich diese Runde und verweise dabei immer auf die beschriebene, längst Geschichte gewordene kleinstädtische Infrastruktur. Besonders freue ich mich schon jetzt darauf, wenn die Domgärten mit der zerfallenen Orangerie hinter der neu entstehenden Evangelischen Schule am Domplatz wieder in Ordnung gebracht werden. Dann wird meine alte Gasse bestimmt ein wahres Schmuckstück sein.