wurde sie von der sowjetischen Besatzungsmacht aufgelöst. Ich entsinne mich noch gut an die 900-Jahr-Feier der Schule im Sommer 1930, die mit großem Pomp begangen wurde. Als Vierjähriger sah ich aus einem Fenster unserer Wohnung am Bismarckplatz (der jetzt nicht mehr so heißt) den Festzug unter mir vorbeiziehen, in dem mein Bruder unter den Sextanern und mein Vater unter den Abiturienten des Jahrgangs 1907 mit marschierten. Rührend und zugleich imponierend das Defilee dieser unzähligen dickbäuchigen, glatzköpfigen oder grauhaarigen alten Herren, die aus aller Welt gekommen waren, um mit der blauen Schülermütze auf dem Kopf das Jubiläum ihrer alten Schule zu feiern.
Direktor war damals Dr. Bruno Kaiser, ein Bruder des großen Dramatikers und Dichters Georg Kaiser. Als ich Domschüler wurde, war er schon nicht mehr im Amt, aber mein Bruder, der unter ihm das Domgymnasium besucht hatte, sprach zeitlebens nur mit größter Verehrung von ihm. Er muss nicht nur ein brillanter Altphilologe gewesen sein, sondern auch als Lehrer und Schulleiter eine Persönlichkeit von beeindruckendem Format. Den Nazis war er ein Dorn im Auge, seiner eigenen unmissverständlichen Haltung wegen so gut wie wegen seines als ,”kulturbolschewistisch” verfemten Bruders. Als er 1933 einen Unfall hatte, der ihn monatelang dienstunfähig machte, nahmen sie das als Vorwand, ihn 1934 vorzeitig zu pensionieren. Die Schule war nicht sehr groß, sie hatte damals mit Sicherheit nicht mehr als 200 Schüler, aber Schulen waren damals überhaupt sehr viel kleiner als heute üblich. Mammutgymnasien mit mehr als 1000 oder gar 1500 Schülern, wie sie nach der in den sechziger Jahren einsetzenden Bildungsexpansion keine Seltenheit waren, konnte man sich damals nicht einmal vorstellen.
Am ersten Schultag nach den Osterferien 1935 wurden wir neuen Sextaner feierlich in unsere nunmehrige Schule aufgenommen. Wir sassen etwas verlegen und beklommen auf den ersten Stuhlreihen in der erst kürzlich als Schulaula ausgebauten gotischen Marienkapelle des Domes, hinter uns die gesamte Schülerschaft und unsere Eltern, Chor und Orchester auf der Orgelempore. Begrüßt wurden wir vom freundlichen alten Herrn Hedicke, der bis zur Bestallung eines neuen Chefs (die sich bis Anfang 1936 hinziehen sollte) als dienstältester Studienrat kommissarisch die Schule leitete. In seiner Ansprache, die sich ansonsten (wie bei solchen Gelegenheiten leider üblich) weit oberhalb unseres Begriffsvermögens ergoss, hob er besonders hervor, dass dieser neue Sextanerjahrgang eine seit vielen Jahren unerhörte Zahlenstärke aufweise: wir waren fünfunddreißig! Und für den Fall, dass eine neue Sexta wieder einmal mehr als dreißig Schüler haben sollte, habe ihm ein Freund der Schule, der ungenannt zu bleiben wünsche, zugesagt, jedem Domschüler einen Berliner Pfannkuchen (die freilich in Naumburg “Muskräppel”heißen) zu spendieren. Fast jedem im Saal war klar, dass der anonyme Spender nur Bruno Kaiser sein konnte. Tatsächlich drängten, als sich nach dem Schluss der Feier die Türen öffneten, die Lehrjungen der nahen Dombäckerei herein, jeder ein riesiges Backblech mit frischen Muskräppeln über dem Kopf balancierend. Auch wir neuen Sextaner griffen herzhaft zu und nahmen damit erstmalig unsere neuen Rechte als nunmehrige “Domratten” wahr.
Das nur zweigeschossige, allerdings von einem steilaufragenden und noch mehrere Bodengeschosse bergenden Satteldach bekrönte damalige Hauptgebäude der Domschule ist unmittelbar an den Dom angebaut und bildet einen L-förmigen Winkel. Der längere der Schenkel stößt senkrecht auf das südliche Seitenschiff des Domes, der kürzere findet eine Fortsetzung in der Marienkapelle, die wie erwähnt als Aula diente. Domschiff und Schulgebäude bilden so einen annähernd quadratischen Hof, der auf der vierten Seite, zum Domplatz hin, damals nur teilweise durch das südöstliche Querschiff des Domes und die Dreikönigskapelle abgeschlossen wurde: die alte Domklausur, die unser Schulhof war und auf der wir also in den Pausen Kriegen spielten. In den frühgotischen Kreuzgang, der das Geviert auf zwei Seiten durchgehend und auf den beiden restlichen immerhin noch bis zur Hälfte umschließt, muss man rund einen Meter hinabsteigen - um so viel ist das Terrain um den Dom in den Jahrhunderten seit der Erbauung gewachsen. Auf der Innenseite des Kreuzgangs läuft eine steinerne Sitzbank ringsherum. Auf ihr hat man schon seit langem in Abständen die dicken Grabplatten senkrecht aufgestellt, die früher in den Boden des Kreuzganges eingelassen und von den Füßen vieler Generationen schon so stark abgetreten waren, dass man die Reliefdarstellungen der hier bestatteten Prälaten samt zugehöriger Inschriften kaum noch erkennen konnte. In dem Flügel des Kreuzgangs, der an der Seitenwand des Doms entlangläuft, gibt es genau in der Mitte eine Tür, die nur für die Schule geöffnet wurde: durch sie zogen wir geschlossen bei bestimmten Gelegenheiten, etwa am Tage von Peter und Paul, denen der Dom geweiht ist, oder zum Reformationsfest, direkt in den Dom ein, um am Gottesdienst teilzunehmen. Wir hatten also gewissermaßen die Kirche im Hause. Mit diesem Teil des Kreuzgangs hatte es noch eine andere Bewandtnis, von der wir frischgebackenen Sextaner freilich noch nichts ahnten: dies war der “Primanerkreuzgang”, dessen Betreten allen anderen (soweit ich mich erinnere, auch den Lehrern) strengstens untersagt war. Wir sollten es bald lernen. Als wir in einer der ersten großen Pausen bei unseren atemlosen Haschespielen unbedenklich auch in das Allerheiligste hineinliefen, packten uns ein paar baumlange Primaner beim Schlafittchen und hievten uns kurzerhand oben auf die senkrechtstehenden Grabmonumente. Da hockten wir Knirpse nun in gut zweieinhalb Meter Höhe, und als es wieder klingelte, schlenderten die Primaner seelenruhig davon und ließen uns ratlos auf unseren Hochsitzen zurück. Wenn wir keinen Ärger haben wollten, weil wir die nächste Stunde versäumten, mussten wir wohl oder übel den Sprung in die Tiefe wagen. Mein Freund Helmut, der auf dem Stein neben mir sass, verstauchte sich dabei auch prompt den Fuß und konnte die nächsten acht Tage nur noch humpeln. Von da an wussten wir Bescheid und hüteten uns, das Tabu ein zweites Mal zu verletzen.
Welche der beiden Primen, denn es gab ja Ober- und Unterprima, das alleinige Recht auf die Benutzung dieses Kreuzgangteiles hatte, das war nicht ein für alle Mal festgelegt, sondern wurde jedes Jahr neu in einem so feierlichen wie barbarischen Ritual entschieden, dem “Kreuzgangsturm”. Am vorletzten Tag des Schuljahres (am letzten gab es ja Zeugnisse und Ferien) zog die ganze Schule, einschließlich Direktor und Kollegium, auf den Schulhof, um dem Wettkampf beizuwohnen und die streitenden Parteien mit lautem Gebrüll anzufeuern. Die jetzigen Unter- und künftigen Oberprimaner mussten den Kreuzgang verteidigen. Die Obersekundaner, die im kommenden Schuljahr Unterprimaner sein würden, traten an, ihn zu erobern. Sie galten als Sieger, wenn es einer zuvor genau festgelegten Anzahl von ihnen gelang, sich von der einen Schmalseite her durch die ganze Länge des Kreuzgangs durchzukämpfen und eine bestimmte Steinplatte an der anderen Stirnwand mit der Hand zu berühren. Das ganze war bei Lichte besehen eine wüste, wenn auch durch Tradition geheiligte Keilerei, bei der es keine weiteren Kampfregeln gab. Das eine Mal, das ich dieses krude Zeremoniell miterlebte, war die verteidigende Klasse an Zahl weit überlegen. Die Unterprimaner konnten es sich leisten, jeden Angreifer zu mehreren an Armen und Beinen zu packen und einfach aus dem Kreuzgang hinauszuschleifen oder zu -tragen, so dass kein einziger das Zielmal erreichte. Damit war klar, dass der Primanerkreuzgang ein Jahr lang der Oberprima gehören würde, und der Direktor beglückwünschte die Klasse zu ihrem Sieg. Der ordnungsgemäß präsente Sanitäter mit seinem Verbandskasten hatte hinterher noch eine ganze Weile zu tun.
Im innersten Winkel des Kreuzganges, also da, wo die beiden Schenkel des L aufeinander treffen, war der Haupteingang zum Schulgebäude. Eine nicht mal sehr große, schlichte braune Holztür, und über ihr die Inschrift DEO PATRIAE LITTERIS1. Sie steht auch heute noch da oben, ich habe mich durch Augenschein überzeugt. Auch mein Vater konnte sie dort schon lesen, aber sie dürfte erst aus wilhelminischer Zeit stammen. Denn erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zog die Vaterländerei als offizielles Credo auch in die öffentlichen Schulen ein und verband sich aufs engste mit der dort schon länger heimischen gottes- und obrigkeitsfürchtigen protestantischen Frömmigkeit. Eine Mischung, die lange wirksam blieb. Noch wir selber haben sie, als wir Soldaten werden mussten, wenn schon nicht im Herzen, so doch auf dem Bauche getragen. Denn da sass das Koppelschloss, und auf dem stand, wie schon zu Kaisers Zeiten: GOTT MIT UNS. Und gerade das hohle Bildungspathos, das ausgerechnet die “humanistischen” Anstalten kultivierten, denen von der ganzen klassischen Antike nur noch die Helden von Marathon und die patriotischen Römeroden von Horaz wichtig waren, hat ganze Generationen in eine fatale Richtung dirigiert. Nicht ohne eine Gänsehaut entsinne ich mich, dass ich als Referendar im Göttinger Max-Planck-Gymnasium noch in den fünfziger Jahren täglich über das horazische “dulce et decorum est pro patria mori” laufen musste, das dort dauerhaft in den gründerzeitlichen Terrazzofüßboden eingelassen war.
Hinter der Eingangstür war es immer ziemlich duster, und schon nach wenigen Schritten stand man am Fuße der schmalen Treppe zum oberen Stockwerk. Denn innen war dieser Teil des Gebäudes, der noch aus dem 17. Jahrhundert stammte, ausgesprochen engbrüstig und alles andere als von repräsentativer Großzügigkeit. Irgendwo seitwärts im Dämmer befand sich das Reich des Hausmeisterehepaares Klapperstück. Frau Klapperstück, eine ausladende und rotwangige Matrone, verabfolgte uns an einem Schalter die Pausenmilch. Wir Schüler nannten die beiden, bei allem liebevollen Respekt, natürlich nur “Herr und Frau Klapperstorch”. Das war angesichts des Namens wohl unvermeidlich, aber gar nicht so unpassend. Denn wie Freund Adebar wirkten sie zwar im Verborgenen, aber durchaus segensreich.
Unweit des Schuleinganges gab es im Kreuzgang noch eine andere Tür, zu der drei Stufen hinaufführten und die ich nie anders als festverschlossen erlebt habe. Auf ihr prangten die rätselhaften Buchstaben “D.C.”. Mein Vater erzählte, er habe als Schüler lange geglaubt, das hieße “Die Casse” (was man damals ja wirklich noch mit C schrieb), weil hinter der Tür das Büro war, in dem sein Vater von Zeit zu Zeit das Schulgeld zu entrichten hatte. In Wirklichkeit stand und steht es für “Dom-Capitel”. Das Domkapitel war natürlich schon lange nicht mehr ein Gremium hochrangiger Geistlicher, denn das Hochstift Naumburg war schon sehr früh zur Reformation übergegangen, auch wenn es dort noch eine Zeitlang einen - evangelischen - Bischof gab (zum ersten machte Luther schon 1542 seinen Freund Nikolaus von Arnsdorf). Vielmehr war es nur noch eine Verwaltungsinstanz, die im staatlichen Auftrag für den Dom und seine umfangreichen Liegenschaften zuständig war. Mein Großvater zum Beispiel hatte seinen großen Schrebergarten am Spechsart vom Domkapitel gepachtet - der Grundbesitz des Domes reichte weit. Dem Domkapitel stand (und steht) noch immer ein “Domdechant” vor, aber das ist nur noch ein Ehrenamt, das an verdiente Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens vergeben wird wie etwa Aufsichtsratsposten oder Stiftungspräsidentschaften. Seinen dienstlichen Wohnsitz hat der so Geehrte in der frühgotischen Ägidienkurie neben dem Dom. Zu meines Vaters Schülerzeit war Herr von Bötticher Domdechant, langjähriger Innenstaatssekretär (so hießen damals die Reichsminister) unter Bismarck. Er muss ein Patentekel gewesen sein, der sich überall einmischte. Zu meiner Zeit sass in der Kurie der schlesische Graf von Posadowsky-Wehner, seinerzeit Böttichers Nachfolger im Reichsamt des Inneren und später Reichstagsabgeordneter der Deutschnationalen Volkspartei. Er sah aus wie der leibhaftige Weihnachtsmann, denn er trug einen riesigen weißen Vollbart vor sich her, und war in der Stadt, wo man ihn häufig auf den Straßen sah, sehr beliebt. Als er 1932 starb, folgte fast ganz Naumburg seinem Sarge, es war wie ein Staatsbegräbnis.
Der alte Bau am Dom war nicht groß und bot trotz der begrenzten Schülerzahl bei weitem nicht Platz für alle Klassen. Deren Mehrzahl war denn auch im so genannten Nebengebäude untergebracht, das ein ganzes Stück weiter unten am Domberg lag. Es mag wohl um die Jahrhundertwende erbaut worden sein, sah wie eine richtige Schule aus und enthielt auch sämtliche Fachräume, von denen wir Sextaner freilich vorerst nur den Zeichensaal brauchten. Der Weg vom Haupthaus dorthin führte über Treppen und Gartenwege durch ein parkähnliches Gelände. Noch viel weiter musste man laufen, wenn Sportunterricht auf dem Stundenplan stand. Denn die Turnhalle mit Sportplatz lag weit unten in den Moritzwiesen, also bereits in der Saaleniederung; sie war erst anlässlich des 900-jährigen Jubiläums erbaut worden und damit der einzig leidlich moderne Teil des ganzen Domgymnasiums. Wir Sextaner waren im Haupthaus am Dom untergebracht, und weil wir so ungewöhnlich viele waren, hatte man uns den größten Raum eingeräumt, den es da überhaupt gab. Er lag ganz hinten im Obergeschoss, also dem Dom zunächst, und blickte mit vier oder fünf, übrigens nicht übermäßig großen, Fenstern ins Saaletal hinunter. Mein Vater erinnerte sich noch an ihn: zu seiner Zeit war das die Aula gewesen. Geheizt wurde er durch einen riesigen Kachelofen, der an der Hinterwand, der Tafel gegenüber, fast bis zur niedrigen Decke reichte und nicht nur vor Unterrichtsbeginn, sondern auch zwischendurch von Herrn Klapperstück versorgt werden musste. In seiner geräumigen Ofenröhre konnten wir (durften aber nicht) unsere mitgebrachten Pausenäpfel braten, und wenn wir einen Lehrer ärgern wollten, legten wir ganz hinten ein paar Schnippgummis hinein. Die verschmorten dann schön und verbreiteten einen infernalischen Gestank, der nicht so leicht wieder hinauszulüften war.
Die Schülerpopulation am Domgymnasium war ähnlich zusammengesetzt wie an der Encke-Schule. Es kamen allenfalls noch ein paar Auswärtige aus der ländlichen Umgebung dazu: Söhne von Pfarrern, Landärzten, Gutsbesitzern. Selbstverständlich blickten wir auf unsere Mitschüler vom städtischen Realgymnasium mit ihren roten Mützen im Vollgefühl unserer Überlegenheit herab, obwohl die sogar auch einen Latein-Zweig hatten. Aber was waren schon die paar Jährchen, die diese neumodische Konkurrenz aufzuweisen hatte, gegen 900 Jahre und gegen Griechisch? Immerhin blieben diese (gegenseitigen) Animositäten meist unartikuliert, zu Handgreiflichkeiten kam es nie. Die Zeiten, von denen noch mein Vater aus seiner Jugend zu berichten wusste, wo handfeste Prügeleien zwischen “Domratten” und “Stadtkanonen” jederzeit in der Luft lagen, wenn Gruppen aus den beiden feindlichen Lagern einander irgendwo begegneten - die waren nun doch vorbei.
Das große Schulfest im Spätsommer wurde weit draußen im Buchholz gefeiert, auf der großen Festwiese beim “Waldschloß” an der Neidschützer Straße, auch das eine Tradition einer an Traditionen reichen Schule, aber im Verlauf nicht so viel anders als anderswo. Erst Sportwettkämpfe der Klassen, ein Handballspiel, Kaffeetafel mit den Eltern und etwaigen Geschwistern, Turn- und Gymnastikvorführungen auf der Wiese, Theateraufführung der Primaner, Preisverleihung und Siegerehrung. Etwas Besonderes war nur der Abschluss am Abend. Da zogen wir alle mit brennenden Pechfackeln bewehrt in langem Zug wieder in die Stadt hinunter, die Musikkapelle voran. Der Fackelzug endete auf dem Kreuzganghof, wo in einer Ecke die Gedenktafel für die Gefallenen der Schule angebracht war (1914- 1918 stand oben, und darunter 165 Namen), gruppierte sich vor den Schwibbogen im Geviert, und die Fackeln wurden in der Mitte zu einem lodernden Scheiterhaufen zusammengeworfen. Irgendwo aus dem Dunkel des Kreuzgewölbes rezitierte ein Sprechchor raunend vaterländische Verse, der flackernde Flammenstoß warf gespenstische Lichter auf die im Hintergrund düster aufragende viertürmige Kulisse des Domes, und uns alle durchschauerte weihevolle Rührung, während die Musik intonierte: “Ich hatt’ einen Kameraden...”. Nicht mehr als vier Jahre später wurde es Zeit, an eine neue, noch größere Tafel zu denken: man hatte wieder angefangen, massenhaft fürs Vaterland zu töten und zu sterben.
Was sich in der Welt der Erwachsenen, gewissermaßen eine Etage über meiner Erfahrungsebene, inzwischen verändert hatte, wurde von mir kaum bewusst wahrgenommen, geschweige denn verstanden. Einem Neun- oder Zehnjährigen begegnet ja noch so vieles als etwas Neues; er nimmt es als das Selbstverständliche und versucht, sich darauf einzustellen. Da ihm die Kenntnis des Davor fehlt, vermag er nicht zu sehen, was anders ist als früher. Und meine eigene Welt war ja noch völlig heil; ich lernte Latein, las viel und spielte mit meinen Freunden. Immerhin registrierte ich Symptome, auch ohne sie sinnvoll zuordnen zu können. Alles war dauernd voll von braunen Uniformen und Hakenkreuzfahnen, denn ständig gab es irgendwo einen Aufmarsch und alle Augenblicke musste geflaggt werden (bei uns wurde immer nur Schwarz-Weiß-Rot rausgehängt, das waren jetzt die offiziellen Reichsfarben).
Meine Eltern erlebte ich jetzt häufiger bedrückt und schweigsam, aber was sie dachten, behielten sie für sich. Im Sommer 35 wurde Naumburg wieder Garnison; der feierlichen Begrüßung der Feldgrauen (deren Knobelbecher und knitterfreie Kopfbedeckungen mir von meinen Plastilin-Spielzeugsoldaten her vertraut waren) auf dem Marktplatz schauten wir aus den Fenstern des Gesundheitsamtes im “Schlößchen” zu. In der Sexta gingen auch schon viele meiner Klassenkameraden zu den Hitler-Pimpfen, aber was die da außer Herummarschieren, Absingen martialischer Lieder und Geländespielen eigentlich trieben, habe ich nie so richtig mitbekommen. Im übrigen wurde es am Gymnasium nie üblich, in Uniform zur Schule zu kommen. Einmal tauchte in unserer Klasse der Primaner Reifenrath auf, Sohn eines Richters und prominenter HJ-Führer. Er hielt uns eine Ansprache in jenem schnoddrig-arroganten Ton, der allgemein als untrügliches Kennzeichen einer echten Führernatur galt, und forderte uns kategorisch auf, nun aber endlich alle ins Jungvolk einzutreten. Wie viel Erfolg er mit diesem Appell hatte, weiß ich nicht mehr zu sagen.
Zu Michaelis 1935 gab es einen ganz neuen Stundenplan. Denn inzwischen war der Sonnabend zum “Staatsjugendtag” erklärt worden, der grundsätzlich unterrichtsfrei blieb, weil an diesem Wochentag alle Jungvolk- und Hitlerjugendmitglieder Dienst hatten. Wir anderen -das war zunächst noch etwa ein Drittel der Klasse - mussten dennoch in der Schule erscheinen, wo wir ein oder zwei Stunden “nationalpolitischen Unterricht” erhielten, gelegentlich wohl auch den Schulhof säubern oder ein Ballspiel veranstalten durften. Den nationalpolitischen Unterricht, der keine Spuren in meinem Gedächtnis hinterlassen hat (mit Gewißheit das übliche Bla-Bla über die schicksalhafte Wende in der Geschichte des deutschen Volkes, die Sendung des arischen deutschen Menschen in der Welt und die große Aufgabe, unserem geliebten Führer bei der nationalsozialistischen Neuwerdung des Reiches zu helfen), erteilte uns, in zackiger SA-Uniform, Studienrat Dr. Rudolph, bei dem wir sonst keinen Unterricht hatten. Er war mit meinem Vater in eine Klasse gegangen und schon als Schüler ein unerträglicher Streber gewesen. Ein waschechter Nazi war er wohl nicht, aber er wusste, wie man vorankommt. Prompt wurde er zwei Jahre später Direktor des Domgymnasiums in Merseburg. Auch der neue Direktor Steche, den das Naumburger Domgymnasium im Januar 1936 endlich bekam, verdankte seine Karriere natürlich der Partei. Er trug einen doppelten Doktor und sogar einen Professorentitel stolz vor sich her und war zuvor Direktor der “Nationalpolitischen Erziehungsanstalt” (vulgo ,Napola') in Ilfeld gewesen. Da er Biologe war (womit er die neue Heils- und Grundwissenschaft der rassenwahnsinnigen Nazis vertrat), wäre er in normalen Zeiten nie und nimmer Leiter des weitaus ältesten humanistischen Gymnasiums im Lande geworden, das bisher immer nur Altsprachler von Rang zu Direktoren gehabt hatte. In der kurzen Zeit, die ich noch Domschüler blieb, habe ich nicht mehr als nur flüchtige Eindrücke von ihm gewonnen. Er war ein schwerer Mann mit kahlem Rundschädel, dem die bombastische braune Parteiuniform der so genannten “Goldfasanen”, in der er zu seiner Amtseinführung erschien, ein geradezu brutales Aussehen verlieh, und trat mit einer lärmenden Selbstgefälligkeit auf, die zu den urbanen Gelehrtenmanieren seines Vorgängers Bruno Kaiser in auffallendem Kontrast stand.
Nicht lange vor Ostern 1936 eröffneten mir meine Eltern, dass wir Naumburg bald würden verlassen müssen. Mein Vater war nach Herford in Westfalen versetzt worden. Wo das lag, mussten wir erst im Atlas suchen, wir hatten kaum je auch nur den Namen gehört. Zunächst war ich viel zu verstört, um Fragen zu stellen, aber auch danach erhielt ich über das Wieso und Warum nur höchst unzureichende Informationen von meinen Eltern. Erst Jahre später, als der ganze faule Zauber längst vorbei war, ist mir Stück für Stück klar geworden, wie das alles zusammenhing. Schon seit dem Sommer 1933 gab es ein Gesetz, dessen Name ein Musterbeispiel für den Orwellschen Etikettenschwindel ist, der damals zum System wurde: der Name einer Sache war immer das genaue Gegenteil dessen, was sie in Wirklichkeit darstellte.
Eine neuerfundene Art der Freiheitsberaubung hieß “Schutzhaft”, weil sie dem Inhaftierten auch die letzten Reste von Schutz seiner Bürger- und Menschenrechte nahm. Die umfassend organisierte Verdummung der Bevölkerung wurde “Volksaufklärung” genannt, und es gab nun ein eigenes Ministerium dafür. So auch dieses “Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums”, dessen Zweck es war, das bis dahin intakte Beamtentum zu zerstören. Es ermöglichte, unerwünschte Berufsbeamte aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen, um an ihre Stelle Parteibonzen setzen zu können. Unerwünscht war, wer als “nichtarisch”, “nichtarisch versippt” oder auch nur als politisch unzuverlässig galt. Mein Vater hatte das Pech, sowohl zur zweiten wie zur dritten dieser Kategorien zu gehören. Da seine Amtsführung bisher sehr erfolgreich war und er deshalb bei der Bezirksregierung in Merseburg gut angesehen war, es vielmehr zunächst nur darum ging, dass ein in der Partei prominenter Kollege durchaus seinen gut dotierten Posten haben wollte, hatte er noch einmal eine Galgenfrist. Er wurde lediglich, nachdem er 15 Jahre lang eines der größten Gesundheitsämter der Provinz geleitet hatte, zum stellvertretenden Amtsarz' degradiert und in einen möglichst weit entfernten anderen Teil Preußens versetzt. Erst anderthalb Jahre später wurde er, nach einer nochmaligen Verschärfung des Gesetzes, endgültig aus dem Staatsdienst gejagt.
Da er zum 1. April 1936 in Herford antreten musste und hoffte, auch möglichst bald eine Wohnung für die Familie dort zu finden, entschlossen sich meine Eltern, mich auch gleich zu Schuljahrsbeginn umzuschulen, notfalls mit der Zwischenlösung, mich vorübergehend irgendwo in Pension zu geben. So etwas zu finden war aber gar nicht leicht, und es dauerte dann doch bis Anfang Mai, ehe man mich in Herford in die Obhut einer Familie geben konnte, die mein Vater irgendwie ausfindig gemacht hatte. Bis dahin hockte ich in recht unglücklicher Verfassung zu Hause am Bismarckplatz herum, denn beim Domgymnasium hatte man mich, bis ich ordnungsgemäß abgemeldet werden konnte, vorsorglich krankgemeldet. Die wohlgemeinte Absicht meiner Eltern, mir den Übergang möglichst glimpflich zu gestalten, war da von den harten Realitäten doch wohl etwas konterkariert worden. Schließlich war es dann aber doch so weit, ich wurde von Tante Anny und Onkel Otto, wie ich meine zeitweiligen Pflegeeltern (deren vier erwachsene Kinder bis auf die jüngste Tochter schon aus dem Hause waren) nennen musste, überaus freundlich aufgenommen und pilgerte fortan getreulich jeden Morgen zum Herforder Friedrichsgymnasium.