erste Rückkehr im Alter von sechs Jahren, allein, ohne Eltern, wurde für mich zu einer Art Gedächtnisprobe. Wie kommt man von der Oma im Flemminger Weg zur Tante in der Thälmann-Strasse? Erinnerst Du Dich? Bruchstückhaft, ich war hier ja mal zu Hause gewesen, aber zwei Jahre sind eine lange Zeit für ein Kind. Eine Nachbarin kam mich begrüßen und fragte, wo es denn schöner sei, hier oder drüben. Sie versuchte, mir bei der Antwort zu helfen: "Vergiss nie die Heimat, wo Deine Wiege stand, Du findest in der Ferne kein zweites Heimatland", oder so ähnlich deklamierte sie in lachendem Singsang abwechselnd in die Hände klatschend und mit dem Finger drohend.

Von Vergessen konnte keine Rede sein. Ich erinnerte mich an mein Geburtshaus in der Jenaer Straße mit dem halbrunden Balkon, auf dem ich an heißen Sommertagen in einer Zinkwanne Erfrischung gefunden oder mit Gleichaltrigen Kindergeburtstag gefeiert hatte; an die Straßenbahn, die rumpelnd und quietschend ihre Kreise um die Innenstadt zog. Ganz besonders aber erinnerte ich mich an das Herz der Stadt, den schönen, riesengroßen Marktplatz, der mich auch später unwiderstehlich anzog und der mit jedem Besuch nicht mehr ganz so enorm schien. Beim Kirschfest war ich noch zu klein gewesen, um zu sehen, was auf dem Platz vor sich gegangen war, aber man hatte mir Kirschpaare über die Ohren gehängt, es gab Musik und Bratwurst, vielleicht auch Eis. Ich erinnere mich nicht an klebrige Leckereien, mit denen Kindern das Leben versüßt wird, und dennoch sollte es für mich das schönste aller Volksfeste bleiben.

Ich fuhr immer wieder gern nach Naumburg, ließ mich von Großeltern und Onkels und Tanten verwöhnen und hatte in meinem Cousin einen tatkräftigen Gefährten bei meinen Unternehmungen. Mit neun Jahren bauten wir im Schrebergarten unseres Opas am Teufelsgraben Kleckerburgen, wie ich es zuvor im Urlaub an der Nordsee gelernt hatte. Man

lässt dazu den dickflüssigen Sand durch die zusammengelegten Hände rinnen und tröpfelt so wie Stalagmiten aussehende Burgen und Schutzmauern auf den Boden. Eine mühselige Technik, die aber zu wunderschönen, bizarren Ergebnissen führen konnte. Am Garteneingang befestigten wir ein Schild mit der Aufschrift: "Kleckerburgenausstellung! Eintritt 10 Pfennig." Eine freundliche alte Dame kam gerade den Weg von der oberhalb der Gärten gelegenen Kaserne herunter und machte bereitwillig unser Spiel mit. Sie zahlte Eintritt, bewunderte unser Machwerk und unseren Ideenreichtum. Wir waren begeistert. Zu Hause schlugen die Erwachsenen die Hände über dem Kopf zusammen: "Nichts als dummes Zeug im Kopf." so ähnlich lautete der Kommentar. Großeltern, Onkel und Tante sahen die Unternehmung unideologisch unter dem Gesichtspunkt "Leuten Geld abknöpfen, das macht man nicht", während die Kunde meinem Vater im Westen später ein "auch das noch!" entlockte, angesichts der Tatsache, dass ich mich so offensichtlich als echtes Kind der Unternehmergesellschaft bloßgestellt hatte.

Mein Cousin war ein guter Junge. Er steckte Russen manchmal ein Kaugummi zu, wenn sie auf dem Weg zur Kaserne leise darum baten, und einmal tauschte er bei einem jungen Russen in dem kleinen Park am Fleminger Weg unterhalb der Russenwohnungen eine Westzigarette gegen eine russische Machorkazigarette ein. Geschwisterlich rauchten wir diese zusammen am offenen Fenster in der Wohnung von Onkel und Tante. Die Wirkung war so stark wie die Zigarette selbst, zumal wir mit 14 sowieso keine Raucher waren. Beim Stadtbummel mit der Tante verschwand mein Cousin dann plötzlich kurz vor dem Marktplatz unter einem Torbogen rechterhand in der öffentlichen Toilette. Wer weiß, ob diese bürgerfreundliche Einrichtung noch existiert. Ich bekam Bauchschmerzen und konnte die Einladung zu einem Rieseneisbecher nicht annehmen.

Eis gehörte jedenfalls bei allen meinen Naumburger Onkels und Tanten zum Verwöhnen dazu, und mir scheint es heute, als hätte die Stadt besonders viele Eisdielen besessen. Als wir größer waren, bekamen mein Cousin und ich Geld und gingen allein in die Stadt. Ich erinnere mich an ein Eiscafe am Lindenring. Es lag ein paar Stufen höher als die Strasse und man konnte draußen sitzen. Bei einem Luxuseisbecher diskutierten wir wieder einmal, welches Gesellschaftssystem gerechter sei oder wer von uns beiden in der Schule das schlimmere Los hatte, mein Cousin mit Russisch oder ich mit Latein, als sich ein älterer Herr an unseren Tisch setzte und unsere Bekanntschaft suchte. In der Annahme, wir seien ein Pärchen, bot er uns seine Wohnung stundenweise zur Nutzung an. Verblüfft verabschiedeten wir uns, aber dann mussten wir doch lachen. So etwas war uns auch noch nicht passiert.

Ich ging gerne in die Stadt bummeln. In der Salzstrasse, links unterhalb der Wenzelskirche war das wunderbarste Spielwarengeschäft, das man sich selbst heute noch für seine Kinder wünschen könnte. Da hingen Puppenkleidchen in verschiedenen Größen auf Miniaturkleiderbügeln und für Jungen stand buntlackiertes Holzspielzeug wie Baukästen und Fahrzeuge zur Auswahl. Es gab zwar nicht zu jedem Zeitpunkt alles, aber irgendetwas Schönes ließ sich meistens finden. Einmal kaufte ich ein weiß lackiertes Holzboot mit echten Segeln und langem Kiel für meinen kleinen Bruder zu Hause. Leider kippte es im Wasser immer um, aber das war nicht so schlimm. Man konnte trotzdem damit spielen, und es war hübsch anzusehen.

Die Umtauschpflicht und die Großzügigkeit von Onkels und Tanten brachten mich in den Besitz ungewohnter Geldsummen, die vor der Rückreise möglichst einträglich umzusetzen waren. So wurde mancher Einkaufsbummel in Naumburg zu einer echten Herausforderung. Schon längst war in unserer Familie der Bedarf an den gängigsten Erzeugnissen des traditionellen Kunsthandwerks gedeckt. Die Tonmasken "das Lachen und das Weinen", die drei Affen mit ihren bedeutungsvollen Behinderungen und das Räuchermännchen aus Holz hatten seit jeher unser Wohnzimmer zu Hause geschmückt und waren nicht mehr gefragt. Doch es gab Schallplatten, Bücher und Bilder. Natürlich konnte ich mir meinen sehnlichsten Wunschtraum, die Abbey Road von den Beatles, nicht erfüllen, und so begann ich, mich für die Schallplatten zu interessieren, die hier auf dem Markt waren. Sicher wäre ich ohne diese Umwandlung meiner eigentlichen Wünsche erst viel später zur klassischen Musik gekommen. Und der Unterschied zwischen Eterna und Deutsche Grammophon wurde durch die Qualität meines Tonabnehmers sowieso relativiert. In der Literatur entdeckte ich Anna Seghers, Dschingis Aitmatov, Fred Wander und andere, die ich zu Hause auf der Suche nach meinen Lieblingsautoren mit Sicherheit ignoriert hätte. Meist ging ich so vor, dass ich schaute, was es gab und mir dann das aussuchte, was mir am besten gefiel. Nur einmal ließ ich mich gegen besseres Wissen von meiner Leidenschaft leiten. Mit 16 oder 17 streifte ich wieder durch Naumburg auf der Suche nach der besten Anlage für mein kleines Vermögen. Am Marktplatz entdeckte ich einen Kunstladen mit Gemälden, Drucken und Postern, der mir bis dahin nicht aufgefallen war. Nun waren für uns Jugendliche tolle Poster an den Wänden fast genauso wichtig wie tolle Musik, um unser Lebensgefühl auszudrücken, um uns von vorherigen Generationen abzusetzen, oder einfach nur, um unseren eigenen Geschmack zu formen. In dieser Phase schwärmten wir, meine Freunde zu Hause und ich, für den Surrealismus und innerhalb dieser Richtung war Salvador Dali unser absoluter Favorit. Dass die Eltern unsere Poster mit leichter Besorgnis betrachteten, bestätigte nur, dass wir in unserem Kunstgeschmack auf dem richtigen Weg waren. Kein grundlegender, kontinuierlicher Kunstgeschichtsunterricht hatte je unser Kunstverständnis geformt, zum Glück aber auch nicht verformt. In Interpretation und Analyse waren wir ungeübt. Wir liebten oder lehnten etwas "aus dem Bauch heraus" ab. Über Kunst wussten wir wenig, über die Kritik noch weniger, schon gar nichts über die marxistische Rezeption. Jedenfalls folgte ich einer spontanen Eingebung und fragte den älteren Herrn, der mich bediente, ob unter den Postern auch etwas von Salvador Dali sei. Der Herr lächelte mich freundlich nachsichtig an und belehrte mich mit ruhiger Stimme: "Wenn es erst mal soweit ist, dann ist das Schlimmste vorbei." Ich hätte es wissen müssen, dachte ich und verließ errötend das Geschäft. Später tat es mir leid, dass ich aus diesem unbestimmten Gefühl der Peinlichkeit heraus nicht länger in dem Laden herumgestöbert hatte, denn, wer weiß, vielleicht hätte ich damals so etwas wie den ‘Protestmarsch der Tagelöhner’ von Pellizza da Volpedo entdeckt, den mein Mann später als Poster aus der Studentenzeit mit in die Ehe brachte. Die Kriterien der Zensur zu jener Zeit waren mir nie richtig zugänglich gewesen, aber ich war überzeugt, dass ich sie intuitiv hätte erfassen müssen.

Natürlich besuche ich noch immer gern Naumburg, wenn sich die Gelegenheit bietet, und lasse mich von Onkels und Tanten zum Grillen oder ins Restaurant einladen. Beim nächsten Einkaufsbummel wird, was läge näher, ein Buch über die Stifterfiguren, besonders über die Gerburg, oder über den Dom an erster Stelle stehen. Ich hoffe nur, dass das System von Angebot und Nachfrage keine ähnliche Wirkung hat wie einst die Zensur.