Max Klingers „neapolitanischer Apoll” im Max-Klinger-Haus
Ein wohlbekanntes Foto zeigt den Vorraum zum Leipziger Atelier Max Klingers (1857-1920). Man entdeckt darauf eine Vielzahl von Gemälden, Zeichnungen und Plastiken des Künstlers und, unter die eigenen Werke gemischt, Mitbringsel Klingers aus dem Süden: einen marmornen Fuß, einen Torso, ein Relief, eine Amphore und mehr. Die antiken Fragmente verdeutlichen, in welcher Tradition der Maler, Grafiker und insbesondere der Bildhauer Klinger sich sah: mit der aufkommenden national tümelnden Mittelalterbegeisterung hatte er wenig zu schaffen. Er fand seine Vorbilder – wie die großen Künstler der Renaissance – in der Antike. Die unmittelbare, meist nackte Körperlichkeit vorzugsweise der griechischen Plastiken faszinierte ihn und die frühen Berichte über deren ursprünglich bunte Fassung inspirierten ihn zu den vielfarbigen, polylithischen Skulpturen, die einen Höhepunkt in seinem bildhauerischen Schaffen bedeuteten.
Unter den antiken Schätzen in Klingers Atelier befand sich auch die fast lebensgroße Bronzestatue eines Jünglings, die als „neapolitanischer Apoll“ bezeichnet wurde. Als einziges der antiken Objekte in Klingers Sammlung handelt es sich hier nicht um ein Original, sondern um einen Abguss. Das Original der Statue – das seinerseits bereits auf 500 Jahre ältere Vorbilder Bezug nahm – war 1853 wiederentdeckt worden, nachdem es fast 2000 Jahre von der Asche des Vesuvs begraben war. Einst hatte es in der „Casa del Citarista“ in Pompeji gestanden, der Villa eines kunstsinnigen römischen Bürgers. Das Haus wurde von den Archäologen nach dieser dort entdeckten Figur benannt, die man als Darstellung des „Apollon mit der Kithara“, einem Lyra-ähnlichen (aber fehlenden) Saiteninstrument interpretierte – eine Deutung, die allerdings seither etwas in Zweifel geraten ist.
Die Original-Statue befindet sich heute im Museo Archeologico Nazionale di Napoli (Inv. 5630). Ein Abguss wurde am Fundort in Pompeji aufgestellt, einen weiteren zeigt das Puschkin-Museum in Moskau in seiner Sammlung*.
Wie Max Klinger zu seinem Exemplar kam, ist noch ungeklärt. Möglicherweise spielte der in Rom lebende Antiquitätenhändler und -sammler Paul Hartwig (1859-1919), ein langjähriger Freund Klingers, eine Rolle, vielleicht hat Klinger aber auch bei einem seiner Italien-Aufenthalte die Gelegenheit wahrgenommen, die kostbare Kopie direkt zu erwerben. Bis auf die den Nachgüssen fehlenden gläsernen Augen-Einlagen gleicht sie dem Original perfekt, die auffälligen Korrosions-Spuren verleihen der Figur eine besondere Authentizität.
Nach Max Klingers Tod im Jahr 1920 ging der gesamte Nachlass an seine Witwe als Alleinerbin, bzw. deren zweiten Mann, den Leipziger Bildhauer Johannes Hartmann (1869-1952) über. Einen Teil der antiken Sammelstücke verkauften die Hartmanns, ein anderer Teil blieb in ihrem Besitz. Es ist kaum noch möglich, den Verbleib des umfangreichen Klingerschen Kunstbesitzes im Einzelnen nachzuvollziehen. Klingers Atelier wurde im Krieg zerstört und auch Hartmanns Villa fiel den Bomben zum Opfer. Den verbliebenen Hausrat schafften die Klinger-Erben schließlich gegen Kriegsende in das Weinberg-Haus über dem Naumburger Blütengrund und spätestens mit dem Hartmannschen Umzugsgut kam auch der Apoll auf den Weinberg. Nach dem Tod der Hartmanns erlebte er die Nutzung des Hauses als Unterkunft für die städtischen Weinbergarbeiter und als „Klubhaus“ für den Verband bildender Künstler. Er überlebte die fast komplette Plünderung des Anwesens und sah mit an, wie das Haus zuerst 1967 kaputtsaniert und dann 2006 sorgfältig wiederhergestellt wurde. {Mehr dazu...] Seither begrüßt er, längst selbst zum eigenwertigen Original geworden, die Gäste des Max-Klinger-Hauses und vermittelt Ihnen einen Eindruck nicht nur von der Antikenbegeisterung des in seiner Zeit weithin berühmten Malers, Bildhauers und Grafikers, dem Haus und Weinberg einst gehörten.
[*Ein weiterer Ab-/Nachguss der Figur findet sich auf dem Loschwitzer Friedhof in Dresden auf dem Grab des Malers Hans Unger (1872–1936). Unger war in seiner Kunst deutlich von Max Klinger beeinflusst - inwieweit die Wahl der Grabfigur davon beeinflusst wurde, ist uns nicht bekannt.]
Literatur:
Valeria Sampaolo, Andreas Hoffmann: Pompeji. Götter, Mythen, Menschen. Ausstellungskatalog Bucerius Kunstforum, Hamburg 2015.
Carol C. Mattusch: When a Statue is not a Statue. http://www.getty.edu/publications/artistryinbronze/large-scale-bronzes/8-mattusch/