entlang, rechts befanden sich in regelmäßigen Abständen schmale Spitzbogenfenster.
Am Ende Flures vor der letzten Tür blieben wir stehen, und der Direktor sagte mir, daß hier mein Klassenzimmer sei. Der Unterricht hatte schon begonnen, man hörte keinen Laut. Der Direktor klopfte an, wartete auf kein Herein, und wir betraten das Klassenzimmer, in dem sich der Deutschlehrer Herr Eller und 18 Knaben befanden.
Ich wurde den Anwesenden namentlich als neuer Mitschüler vorgestellt. Mir wies Herr Eller einen Platz am Fenster in der vorderen Bankreihe zu, die als ungeliebt galt. Neben mir saß Rudi Klatt, der aber keine Notiz von mir nahm, da er den Augenblick der Unterrichtsunterbrechung als willkommene Gelegenheit benutzte, um mit dem Mitschüler Harald Haase sich per kleinem Zettel über ein Schachproblem auseinander zu setzen. Herr Eller, der auch der Klassenlehrer war, bat mich nun nach vorne zu seinem Pult, um meine Personalien in das Klassenbuch einzutragen. Im Klassenzimmer herrschte ein gespannte Ruhe, und ich glaubte, auf meinem Rücken die neugierigen Blicke zu spüren. Es war auch ungewöhnlich, daß in der Mitte des Schuljahres ein neuer Schüler eintraf, der in einigen Wochen 16 Jahre alt wurde und nun in die 8. Klasse aufgenommen wurde.
Hoch interessant verlief die folgende Stunde. Hier war die Lateinstunde angesagt unter der Regie des Lateinlehrers Dr. Fuhrmann. Nun tat sich ein gewaltiger Gegensatz auf, der Kopfschütteln und Ungläubigkeit bei meine künftigen Mitschülern hervor rief. Meine Lateinkenntnisse beschränkten sich darauf, sagen zu können. "Gallus cantat, multi galli cantant", das zu deutsch heißt: "der Hahn kräht, viele Hähne krähen." Das lernt man in der ersten Stunde, und mehr konnte ich nicht, da mein privater Lateinlehrer in Weißenfels, von wo wir Ende Dezember 1947 nach Naumburg umgezogen waren, schon länger krank war. Meine neuen Klassenkameraden lasen den "Gallischen Krieg", geschrieben von Julius Caesar, das Standardwerk für den Lateinunterricht seit Jahrhunderten. Diese Offenbarung stand wie eine fest gefügte Mauer zwischen mir und den anderen. Ich empfand mich als Fremdkörper und in den ersten Pausen bekam ich mit, daß die Kameraden mich auch so sahen, und die Fragen kamen logischer Weise auf, was wohl dieser Knabe hier wolle, und wo kommt der überhaupt her.
Die Lehrer wußten um meine Lage und sie akzeptierten mich als einen ganz normalen Schüler. Um die Riesenlücke im Fach Latein zu schließen, vermittelte Oberstudienrat Behne mir einen pensionierten Lateinlehrer, der sich vom l. Weltkrieg her mit einer schlecht sitzenden Oberschenkelprothese durchs Leben schleppte. Zu ihm in seine Wohnung ging ich viermal in der Woche nachmittags für eine volle Stunde und paukte mir Latein ein. Er gab mir auch Hausaufgaben auf, die ich in den Lateinstunden meiner Mitschüler erledigte. Diese Situation stand logischer Weise einer Integration in die Klasse im Wege.
Unser Lateinlehrer, Dr. Fuhrmann, mein Vater und der Oberstudienrat Behne hatten mir das Ziel gesetzt, bis zu den Sommerferien des Jahres 1948 den Anschluß an das Fach Latein zu schaffen. Eine Klasse tiefer gab es nicht mehr, denn wir waren der letzte Durchgang im Domgymnasium, das als Schule nach dem Willen der Machthaber geschlossen werden sollte. In den übrigen Fächern "schwamm" ich mühelos mit, ohne zu Höchstleistungen aufzulaufen, aber die Integration in die Klasse war bis zu den Sommerferien noch vollzogen. Wir schafften alle die Versetzung in die nächst höhere Klasse, und mit Beginn des neuen Schuljahres änderte sich sehr schnell der Umgang mit mir.
Wir begannen Griechisch zu lernen, und da waren wir alle gleich, und, wie schon erwähnt, ich hatte den Anschluß an das Lateinniveau geschafft. Sehr schnell entwickelte sich eine Freund- und Kameradschaft wie sie heutzutage selten geworden ist. Ein Beispiel möge dies untermauern. 1949 wurde die sogenannte Schulspeisung eingeführt. Das Bereiten einer Mahlzeit im Domgymnasium war nicht möglich, und so kam es, daß wir 3 mal in der Woche, montags, mittwochs und freitags, ein dunkles Vollkornbrötchen ausgeteilt bekamen. Es ist für die heute lebenden jungen Menschen nicht vorstellbar und auch nicht beschreibbar, was dieses Brötchen für schöne Gefühle auslöste. In unserer Klasse waren 5 Mitschüler, deren Eltern in der näheren Umgebung eine Landwirtschaft betrieben. Diese Schüler hatten natürlich jeden Tag ein ordentliches und ausreichendes Frühstück mit und verzichteten auf das Vollkornbrötchen zu Gunsten der 13 anderen. Nach einem von unserem Mathe-Ass entwickelten Zahlenschüssel bekam jeder der 13 Kameraden etwa jeden 3. Tag zwei dieser Brötchen. Ein unheimlich schönes Gefühl, für ein oder zwei Stunden den Magen nicht mehr knurren zu hören...